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Klara ist durch die Musik des Säbeltanzes sehr beschwingt. Er stürmt wie ein tosendes Ge­wit­ter in die Küche.

„Simon, was ist denn los mit dir?“ Die Schultasche wird hart in eine Ecke geworfen. Seine Fäuste sind geballt. Er lässt sich schwer auf die Eckbank fallen und verschränkt trotzig die Arme. Ohne etwas zu sagen. Klara gibt fein geschnittene Zwiebeln in heißes Olivenöl. Martin erscheint in der Tür. Er war es leid, hinter Simon her zu rennen. In den zweiten Bus ist er erst gar nicht einge­stiegen.

„Dein Sohn findet eh alleine nach Hause. Den brauchst du nicht mehr abholen.“ Es klingt gekränkt und unwirsch zugleich. Martin geht durch die Küche in Klaras Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Wie gebannt steht sie da. Die Zwiebel riechen angebrannt. Sie rührt schnell um.

„Willst du nicht deine Jacke ausziehen und dann den Tisch decken?“ Simon hat noch immer kein Wort gesagt.

„Nein, ich will, dass der endlich wieder geht!“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf Klaras Zim­mer­tür. Das Telefon läutet. Simon springt auf und nimmt ab. „Ja, sie ist hier. Ciao Rickie.“ Mit betretenem Blick übergibt er den Hörer an Klara.

„Ja, was gibt’s Rickie?” Sie lässt sich erschöpft auf das Sofa fallen.

„Na, wie geht’s der trauten Familie?“ Klara seufzt ärgerlich. „Der Simon hört sich genervt an. Und wie geht es dir?“ Klara schweigt eine Weile. Sie atmet tief durch, ehe sie antwortet.

„N o c h sind wir nicht abgebrannt und n o c h gibt es keine Verletzten. Aber wenn du etwas Geduld hast, werden sich deine Weissagungen erfüllen.“ Sie ist angriffslustig. Rickie lächelt zufrieden vor sich hin. Zur Bestätigung ballt sie die Faust, hält den Daumen hoch und presst die Lippen aneinander.

„Und was soll ich dir geweissagt haben?“ Sie tut wie immer unschuldig. Klara spielt nervös mit dem Kabel des Telefons.

„Wart einen Moment, ich muss die Pfanne vom Feuer nehmen.“ Sie legt den Hörer auf das Sofa und läuft zum Herd. Das Wasser für den Reis schaltet sie ebenfalls aus. ‚So wie es derzeit aussieht, werden wir alle drei keinen Appetit haben’, denkt sie ergeben.

„Da bin ich wieder.“ Sie lässt sich auf das Sofa fallen.

„Also jetzt ehrlich, wie geht’s euch.“ Klara seufzt.

„Das kommt darauf an, wen du fragst. Mir geht es mit Simon momentan nicht sehr gut, weil er sich vollkommen daneben benimmt.“ Sie wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Er weiß, worum es geht. In der vergangenen Nacht kam er zweimal und ließ sich schließlich nicht mehr abwimmeln. Martin drehte sich einfach zur Wand und schlief bald wieder ein. Simon schmiegte sich an sie. Sie lag als einzige stun­den­lang wach und überlegte innerlich getrieben, was sie tun kann, um dieser Zwickmühle zu entkommen.

„Aber mit dem Martin geht es mir gut. Wir sind zwar noch mitten in den Verhandlungen, aber es sieht gut aus. Da kann ich dir leider nicht helfen.“ ‚Der Nachsatz war überflüssig’, räsoniert Klara und rechtfertigt sich: ‚Aber warum muss Rickie so unverhohlen auf eine endgültige Trennung zwischen uns speku­lieren?’ Simon läuft plötzlich aus der Küche.

„Na dann musst du halt schauen, wie du deine beiden Männer unter einen Hut bringst.“ Ohne sich zu verabschieden, legt sie auf. Klara hört eine Zeitlang das Besetztzeichen und lässt den Hörer in die Gabel fallen. Martin steht plötzlich in der Tür.

„Ich hab mir überlegt, zu fahren.“ Er sieht sie erwartungsvoll an. Ihre Blicke unterhalten sich ohne Worte. Sie lässt sich in das Sofa fallen.

„Bist du dir da auch sicher?“

„Nein, ich hab mir überlegt, dass ich mir erst einmal neue Laufsachen kaufen geh. Ich brauch neue Laufschuhe.“ Seine rasche Antwort erweckt den Eindruck, als handle es sich nicht um eine spontane Entscheidung.

„Das ist eine sehr gute Idee.“ Klara atmet erleichtert durch. „Ich will nicht, dass du jetzt das Feld räumst, nur weil sich unser Herr Sohn einbildet, mir vorschreiben zu können, was ich zu tun und zu fühlen hab.“ Sie geht auf ihn zu und umarmt ihn.

„In der nächsten Quergasse gibt es ein gutes Geschäft für Laufschuhe.“ Martin sieht sie fra­gend an. „Du gehst einfach die Straße runter und bei der ersten Gelegenheit nach rechts. Es liegt auf der linken Seite, aber ich weiß nicht genau, wo. Wenn du es nicht findest, frag …“

Martin ist bereits an der Tür zum Vorraum und meint ungeduldig: „Ich werde es schon finden. Bis später.“ Er dreht sich halb zu ihr um, verabschiedet sich beiläufig und ist dann hinter der Küchentür verschwunden. Wieder läutet das Telefon. Klara will nicht abnehmen, überlegt es sich jedoch anders.

„Ich bin es noch einmal. Die Hanna hat mir eine Moralpredigt gehalten und mir aufgetragen, ich soll dich noch einmal anrufen.“ Sie schweigt verlegen.

„Ich ruf dich dann zurück. Bist du in der Beratungsstelle? Ist gut, ich ruf dich in einer Viertel Stunde oder so an. Bis dann.“ Sie läuft rasch hinaus.

„Bis wann bist du wieder zurück?“ Er steht unentschlossen in der geöffneten Hälfte der Doppelflügeltür. „Ich frag nur wegen dem Essen“, sagt sie schnell, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wolle ihn kontrollieren.

„Ihr braucht nicht auf mich warten. Es wird länger dauern. Ich will dann gleich laufen gehen.“ Klara verschränkt die Arme und lehnt sich an den Türstock der Küchentür. Noch immer unentschlossen sieht er sie an.

„Was willst du von mir? Dass ich ein Wunder vollbring?“ ‚Es ist nicht meine Schuld, dass du dein Vaterdasein vernachlässigt hast. Simon präsentiert dir jetzt die Rechnung dafür.’ Sie spricht ihre Gedanken nicht aus. Vorwürfe sind nie hilfreich. Außerdem hat sie sich selbst etwas vorzuwerfen. Ihr ist nicht wohl bei dem Gedanken daran, es ihrem Sohn zu beichten.

Er reagiert nicht auf das Gesagte. Und Gedachte. „Wo hast du gesagt, ist ein gut erreich­bares Tor vom Park?“ Klara ist froh, ihm etwas Praktisches erklären zu können. Etwas, das sie kennt und wo es nicht um Fingerspitzengefühl und Ahnungen geht.

„Du fährst am besten die Straße an der Wien raus, nach der verglasten Brücke über den Fluss biegst du links ein und fährst dann rechts einfach gerade aus, und dann noch einmal nach links. Da kommst du direkt zu einem Tor. War das verständlich?“ Er wiederholt: „Über die gläserne Brücke links und dann rechts und dann wieder links.“ Klara findet sich nicht so leicht mit Straßenbeschreibungen zurecht.

„Bis dann, Martin. Wir warten mit dem Essen auf dich.“ Sie geht auf ihn zu und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Ihr Gespräch am Vormittag kommt ihr in den Sinn. Es fühlt sich an, als hätte es bereits vor Tagen stattgefunden.

„Ich schau dann, was ich bei Simon erreich, während du weg bist.“ Es soll ein Trost sein. Bitterkeit macht sich breit. Er löst sich rasch von ihr und geht hinaus. Sie schließt die Tür und entdeckt Simon hinter sich.

„Was willst du bei mir erreichen?“ Klara schlägt in Gedanken die Hände über dem Kopf zu­sammen. Sie kommt sich vor wie in einer dieser viel belachten Familienserien aus den Staa­ten. Das Publikum fehlt, das solche Situationen zum Lachen komisch findet. Ernst­haftig­keit und Tiefe sind Gefühlsregungen, die in diesen Serien mit unangebrachten Lachsalven über­malt werden. Mit einem ernsten Blick fordert sie ihn auf, ihr in die Küche zu folgen.

„Komm her, Simon, wir zwei trinken jetzt zusammen diesen wunderbaren Kakao, den Hanna uns unlängst mitgebracht hat und essen dazu ein Honigbrot.“ Sie legt ihren Arm um seine Schulter.

„Mama, warum ist der Martin noch immer da?“ Sie sieht ihn fragend über die geöffnete Kühl­schrank­tür an. ‚Warum soll ich etwas erklären, das von Anfang an klar ausgesprochen wor­den ist?’ Sie stellt mit einem nachdenklichen Gesicht die Milchflasche auf die Arbeits­fläche.

„Simon, wir haben dir doch gestern gesagt, dass der Martin bis Sonntagabend hier bleiben wird. Jetzt ist Freitagnachmittag, was soviel heißt, als dass noch gut zwei Tage übrig sind von der Zeit, die er noch bei uns sein wird.“ ‚So sehr ich mich darüber freu, so sehr hofft Simon, dass diese Tage so schnell wie möglich vorüber gehen.’ Sie streichelt ihm mitfühlend über den Schopf.

„Aber du bist ja gar nicht wirklich krank. Warum muss er dann noch hier bleiben?“ Simon wagt nicht, sie anzusehen. Klara drückt ihn an sich und küsst ihn auf die Wange.

„Wie soll ich dir das erklären, Simon? Du bist böse auf den Martin, weil du … ach ich weiß auch nicht warum. Ich will wieder mit ihm zusammen sein, verstehst du?“ Simon macht sich los und sieht trotzig zu ihr hoch.

„Aber warum denn? Er hat dir letzten Winter so wehgetan. Und nach seinem Besuch im Sommer hast du nur noch geweint.“ Sie seufzt. Nicht in Anbetracht der schmerzhaften Erinnerung. Sie weiß nicht, wie sie ihrem Sohn ihren Sinneswandel begreiflich machen kann.

„Das kann ich dir nicht erklären, Simon. Es ist so. Der Martin und ich haben uns halt sehr gern.“

„Wenn du es nicht erklären kannst, was soll dann gut daran sein? Du kannst mir doch sonst immer alles erklären. Warum das nicht?“ Er lässt sich robbend auf der Bank nieder. ‚Mein Argument, dass wir uns gern haben, lässt er nicht gelten.’ Klara denkt eine Weile darüber nach. Sie reibt sich die Hände und sucht nach einfachen Worten. Es geht nicht nur darum, es mit einfachen Worten zu erklären. Wieder läutet das Telefon. „Geh du ran, Simon und sag, wenn es Rickie ist, dass ich sie in zwanzig Minuten zurückrufe.“

Sein Blick ist verwirrt. Er sieht Klara fragend an. Ohne ein Wort zu sagen, übergibt ihr Simon den Hörer. „Weber.“ Die Ordinationshilfe ihres Hausarztes ruft sie wegen des Termins an.

„Frau Weber, wenn sie wollen, dass wir sie krankschreiben, müssen Sie schon vorbei­kommen. Sie haben den Termin heute Vormittag nicht wahrgenommen!“ ‚Frau Bernhard ist wie eine Schuldirektorin. Klara, das ungezogene Kind, hat den Termin um elf vergessen.’ Sie amüsiert sich.

„Frau Bernhard, wie lange haben Sie heute noch die Ordination offen?“ Das weiß sie. Aus taktischen Gründen hält sie es für klüger so zu tun, als wisse sie es nicht.

„Also gut, ich komme um drei. Haben Sie vielen Dank, dass Sie mich extra angerufen haben. Auf Wiedersehen.“ Klaras unterwürfige Worte sind gespielt.

„Simon, ich muss am Nachmittag zum Arzt. Kommst du mit?“ Sie wirft ihm einen auf­mun­ternden Blick zu.

„Warum fragst du? Ich geh doch immer mit dir mit, wenn du zum Arzt gehst.“

‚Martin hat keine Wohnungsschlüssel mitgenommen. Das heißt, er hat sie noch nicht wieder zurückbekommen. Er wird gegen halb drei noch nicht zurück sein, wenn wir aufbrechen.’ Sie überlegt, den Schlüssel unter die Fußmatte zu legen.

„Simon, ich muss dir ein Geständnis machen.“ Er folgt bereitwillig ihrer Aufforderung, sich auf ihren Schoß zu setzen. Das ist lange nicht mehr vorgekommen. ‚Er kann nicht sein Leben lang mein Schmusekind bleiben.’ Seinen Kopf an ihrem Hals, ist sie sich nicht mehr sicher. Auch die Art, wie er sich vergangene Nacht an sie geschmiegt hat, lässt sie darüber nach­sinnieren: ‚Hab ich zu früh begonnen, ihn abzunabeln?’ Wie viele Mütter denkt sie nicht daran, dass Kinder sich von selbst abnabeln und eines Tages ihre eigenen Wege gehen.

„Was musst du mir gestehen, Mama?“ Klara hat sich ihre Worte noch nicht überlegt. Sie weiß nicht, wo und wie sie beginnen soll. Nach einem tiefen Seufzer formuliert sie ihre Gedanken. Ohne zu wissen, wo diese sie hinführen werden. Sie seufzt noch einmal. Nicht zuletzt durch Simons Nähe. Noch immer fühlt sie sich wie eine Glucke, die über jeden Schritt ihres Kükens wacht, damit ihm nichts passiert.

„Es ist nicht nur Martins Fehler, dass du ihn vermisst hast.“ Bereits nach dem ersten Satz weiß sie nicht weiter.

„Wer hat noch einen Fehler gemacht?“ Simon sieht zu ihr hoch. Sein Blick verrät ihr, dass er ihr nicht glauben will. Es ist einfacher, nur einen Menschen für schuldig zu erklären. Beson­ders wenn es jemand ist, den er momentan nicht gut leiden kann.

„Simon, du tust Martin Unrecht, wenn du glaubst, es liegt nur an ihm, dass alles so gekom­men ist. Ich hab auch Fehler gemacht.“ Sie hält inne.

„Welche Fehler hast du gemacht?“ Simon ist wieder in seiner Trösterrolle und streicht mit seiner kindlich behutsamen Hand über ihre Wange. Klara ist gerührt. Die Sonne verschwin­det hinter dem Nachbarhaus. Die Tage nähern sich der Wintersonnwende. Es wird dunkel im Zimmer. Klara ist es Recht so. Das dämmrige Licht passt zu dem, was sie Simon jetzt sagen will. Ihre Beziehung zu Martin ist wie ein Tag, über den sie am Abend nachdenkt.

„Du hast Martin zuletzt nur von seiner schlechten Seite kennen gelernt.“ ‚Warum bin ich in der Defensive und kann nicht über mich sprechen?’ „Nein, Simon, hör mir zu. Ich will dir etwas ganz anderes sagen.“ Simon wird müde von den Haken, die sie während ihres Gesprächs schlägt. Es erschöpft ihn, ihr dauernd irgendwohin zu folgen, wo sie dann doch wieder kehrt macht.

„Wenn ich so rede wie du, sagst du immer zu mir, ich soll aufhören wie die Katze um den heißen Brei zu reden.“ Eine aufgeschlossene Kinderstube schreibt Aufrichtigkeit vor.

„Du hast Recht, Simon. Ich werd mich jetzt zusammenreißen und dir reinen Tisch machen. Wir haben nicht lange Zeit. In einer halben Stunde müssen wir aufbrechen.“ Sie will sich eine Tasse Kaffee machen. Dann fällt ihr ein, dass sie versprochen hat, mit Simon eine Tasse Kakao zu trinken.

„Ich mach uns jetzt einen Kakao und dann reden wir weiter, einverstanden?“ Simon nickt und klettert von ihrem Schoß.

„Ich mag lieber ein Brot mit Marmelade von der Oma.“ Die passiert Himbeer­marme­lade ihrer Mutter schmeckt vorzüglich. Ihr kommt nie in den Sinn, Marmelade zu kaufen. Ihre Mutter hat immer genügend Vorrat. Manchmal gibt sie ihrer Tochter eingefro­rene Beeren mit, damit sie sich selbst Marmelade einkochen kann. ‚Als nächstes kauf ich mir eine „Flotte Lotte“. Passierte Marmelade schmeckt mir besser.’

„Simon, ich hab oft zu dir gesagt, du bist mein edler Ritter. Kannst du dich daran erinnern?“ Simon nickt. Den Mund voll mit Marmeladebrot und bis über die Lippen rot verschmiert. „Und du hast mich auch deinen kleinen Prinzen genannt.“ Er ist sichtlich stolz darauf.

„Das war falsch von mir. Du bist mein Kind und nicht mein kleiner Ritter.“ Simon verschluckt sich am Kakao. Er muss husten. Sie klopft ihm auf den Rücken.

„Warum darf ich nicht dein Ritter sein?“ Er fragt, obwohl er seine Rolle nicht begreifen kann. Doch er mag es, wenn sie ihn ihren Ritter nennt.

„Simon, du weißt, eine Familie besteht normalerweise aus Vater, Mutter und Kind oder Kindern…“

„Warum der Vater zuerst?“ unterbricht er sie.

„Das ist eine berechtigte Frage. Na gut, wenn du willst nennen wir es Kind, Mutter und Vater. Bei uns hat der Vater die meiste Zeit gefehlt.“ ‚Abgesehen von der Zeit, in der wir getrennt waren und der Tatsache, dass wir eine Pendlerehe führen, hat Martin gar nicht so oft gefehlt.’ Sie denkt wortlos darüber nach.

„Bei den meisten Kindern in der Schule ist der Vater auch fast nie da. Das ist ganz normal.“

„Du hast eine gute Beobachtungsgabe. Oder reden die Kinder darüber, dass sie ihre Väter vermissen?“ Simon hebt wortlos die Schultern. ‚Es könnte auch sein, dass er mir bei den Diskussionen mit Kamilla und Rickie zugehört hat. Vielleicht aber will er mir nur imponieren.’ Simon denkt, seine kluge Erkenntnis hätte Klara zum Schweigen gebracht.

„Das ist schon richtig, dass die Kinder meistens nur Sache der Frauen sind. Aber …“ Sie weiß nicht weiter.

„Aber was?“

„Aber es gibt immer auch noch andere Gründe.“ Ihre Worte entsprechen nicht mehr ihrem politischen Verständnis. ‚Wie soll ich Simon erklären, dass die Abwesenheit von Martin mit unserer Beziehung zutun hat, wo doch die meisten Männer nur sehr wenig Zeit für ihre Kinder haben, und das meist ganz andere Ursachen hat, als in unserem Fall. Oder irre ich mich?’ Sie wird unsicher. ‚Vielleicht arbeiten viele Männer auch deshalb soviel oder machen sich mit einer aufwändigen Lieblingsbeschäftigung aus dem Staub, weil sie genau wie Martin nur einen Abstand zu ihrer Frau und zu ihren Kindern haben wollen.’ Der individuelle und der allgemeine Fall lassen sich niemals zusammen führen. Der Einzelfall ist immer anders.

„Lassen wir doch erst einmal die anderen Kinder weg, die auch ihren Vater vermissen so wie du.“ Simon hört ihr gespannt zu und will gerade anfügen, dass er Martin momentan nicht vermisst. Es wäre ihm lieber, er würde wieder nach Hause fahren. Etwas hält ihn zurück. Er ahnt, es würde Klara kränken. Sie ringt unterdessen noch immer nach Worten. Nach einer Weile sieht sie auf die Uhr. „Du, wir müssen uns jetzt fertig machen. Ich erzähl dir das auf dem Weg zur U-Bahn.“

Simon an der Hand eilt sie zur nächstgelegenen Station. „Simon, du bist mein Kind. Der Martin ist mein Mann und dein Vater…“

„Was redest du denn da zusammen, Mama. Das weiß ich doch!“

Sie haben genügend Zeit. Trotzdem hetzt etwas in ihrem Innern einem Ende entgegen. Sie will so rasch wie möglich an einem Punkt kommen, an dem das Thema für Simon klar werden kann. Die Fehler, die sie in ihrer Beziehung zu ihrem Sohn begangen hat, leuchten ihr wie rote Blinklichter entgegen.

„Wenn du dich dagegen stellst, dass der Martin und ich wieder zusammen sind, werden wir es nicht schaffen … Ich meine, eine Familie zu sein.“ Er sieht enttäuscht zu ihr hoch. „Mach dir keine Sorgen, es liegt deshalb keine Last auf deinen Schultern. Ich will nur, dass du dich mit Martin wieder verträgst. Du hast ihn doch früher auch gern mögen.“ Sie bemerkt sein schmollendes Gesicht. „Aber dass du jetzt etwas gegen ihn hast, ist auch mein Fehler, weil ich dich ihm lange Zeit vorgezogen hab. Das war nicht richtig, verstehst du?“ Sie hat den Mut, es auszusprechen. „Ich kann sehr gut verstehen, dass du Martin derzeit ablehnst. Er ist dabei, dir einen Status wegzunehmen, den du lange Zeit innegehabt hast.“ Simon sieht sie fragend an.

„Mama, was ist ein Status?“ ‚Das muss ihn ja irritieren, wenn ich ihn behandle wie einen Erwachsenen und er dann doch wieder dasteht wie ein Kind.’ Sie ist verwirrt und innerlich aufgewühlt.

„Tut mir Leid, Simon. Ich bin nicht ganz bei der Sache. Martin ist nicht rechtzeitig zurückgekommen, ich hab den Termin bei meinem Arzt vergessen und nun liegt der Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte und ich mach mir Sorgen, dass jemand in die Wohnung kommt und uns bestiehlt.“

Er drückt ihre Hand. „Es wird schon nichts passieren.“ ‚Simon ist mit seinen acht Jahren erwachsener als viele erwachsene Männer. Martin mit eingeschlossen. Er hat selten tröstend meine Hand gedrückt, wenn ich mir Sorgen gemacht habe.’

In der U-Bahn setzt er sich dicht neben sie und schmiegt sich an sie. ‚Wie kann ich ihm jetzt sagen, dass er einen Teil meiner Zuwendung wieder an seinen Vater abgeben wird müssen und Martin seinen Platz an meiner Seite zurück haben will?’ Sie seufzt und verschiebt in Ge­danken das Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt. Simon ist froh, als sie nichts mehr sagt. Die Aussicht auf die Veränderung, die Martin herbeiführt, bereitet ihm großes Unbeha­gen.

„Martin, ich meine es ernst. Bitte mach dich nicht schon wieder über etwas lustig, das…“ Sie unterbricht sich. „Weißt du, eine göttliche Macht würde garantiert nie wollen, dass irgendwer erniedrigt wird. Das ist reines Männergequatsche. Bei Män­nern geht es immer nur um Über­le­gen­heit und Unterlegenheit. Als ob wir uns nicht auf ein und derselben Ebene begeg­nen könnten.“ Die waagrechte Hand zeigt zuerst nach oben dann nach unten, dann macht sie eine verneinende Bewegung.

Im Schneidersitz massiert sie ihre Füße. Sie will fortzusetzen, hält jedoch plötzlich inne. Mit einem Mal wird ihr Innenleben unerträg­lich. Die Kluft zwischen der inneren Bewegtheit und der philosophischen Diskussion im Außen zwingt sie zu einem Spagat, der droht, sie auseinander zu reißen. Martin erwartet einen Wider­spruch. Solange er sie provozieren kann, liebt er das Geplänkel. Entspannt streckt er sich auf dem Bett aus und legt beide Hände unter seinen Hinterkopf. Den Blick erwar­tungs­voll an sie gerichtet.

„Martin, ich fühl mich, als hätte ich keinen Boden mehr unter meinen Füssen.“ Er erwidert ihren fragenden Blick mit einem leichten Schulterzucken.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Mir ist auf einmal schlecht.“ Während sie über aus dem Bett klettert sagt sie schnell: „Ich glaub, ich muss mich übergeben.“

Ihr Nacken pulsiert. Die Schultern tragen eine schwere Last. Ihre Knie zittern. Innerlich, nicht wirklich. Die Beine versagen ihr den Dienst. Sie lehnt sich gegen die Fliesenwand an der Außenseite der Badewanne. Nach einer Weile steht sie auf und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie wirft einen Blick in den Spiegel. Ihre Wangen glühen und ihre Augen glänzen wie im Fieber. Erschöpft und beunruhigt lässt sie sich auf den Boden fallen.

„Was hast du?“ Martin steht in der Tür und sieht sie neugierig an. Sie ist in der realen Welt zehn Minuten einfach dagesessen. Wohin ihre Gedanken sie getragen haben, liegt hinter einem Schleier verborgen.

„Komm herein Martin und setz dich neben mich.“ Sie legt eine Hand auf den Bade­wannen­rand. Der Griff nach etwas Festem tut gut. Sonnenstrahlen fallen durch das kleine Fenster in den Spiegel gegenüber. Der Raum wirkt wie ein heiliger Ort. Wie ein Traum. Sie fühlt diesen Traum, als sie ihren Kopf in seinen Schoß legt. „Martin, du hast mich ganz schön durch­ein­ander gebracht mit deiner Frage.“ Er lacht erleichtert und streichelt ihren Kopf. Ehe er etwas sagen kann, redet sie wie in Gedanken weiter.

„Was hätte es denn für einen Sinn, wenn wir heiraten? Vom Ritual her bekennen sich zwei Menschen vor einer Gemeinschaft zueinander. Aber warum sollten wir das tun? Deine Eltern waren von Anfang an gegen mich und meiner Mutter bist du Casanova unheimlich.“ Sie sieht zu ihm hoch. Ihre Blicke treffen sich.

„Gut, dass du mir das endlich sagst. Ich hab mich schon immer gefragt, warum deine Mutter mir gegenüber so reserviert ist.“ Sie beachtet seinen Blick nicht.

„Und der Hermann hat einen Komplex, weil er das genaue Gegenteil von dir ist mit seinem Charme von frisch gepresstem Zitronensaft. Der schafft es nicht einmal, eine Frau auf eine Tasse Kaffee einzuladen.“

„Warum mögt ihr zwei euch nicht?“ Martin ist das erste Mal interessiert an ihr.

„Ach, das ist eine lange Geschichte.“ Sie seufzt und will nicht an das Schlamassel mit ihrem Bru­der erinnert werden. „Das erzähl ich dir ein anderes Mal. Ich will jetzt etwas von dir wis­sen. Kannst du mir erklären, was deine Eltern gegen mich haben?“ Martin will nicht dar­über sprechen. Er weiß nicht wie, ohne ihr wehzutun. „Sag es mir endlich!“ bittet sie, während Martin noch immer überlegt, wie er das Thema vermeiden kann.

„Sie glauben halt, dass das mit deinem Vater erblich sein könnte und du …“ Er hält verlegen inne.

„Und ich mich auch eines Tages umbringen werde?“ Er lässt sich an der Badewan­nen­seite hinab gleiten und legt einen Arm tröstend um sie. Der Schalk in seinen Augen passt nicht zu ihrem Gespräch.

„Aber vor allem wünscht sich meine Mutter eine bodenständigere Frau für mich. Eine, die mir zeigt, wo’s langgeht und die mir meine Weibergeschichten austreibt.“ Seine Hand bewegt sich wie ein Segel durch den Raum. Er lacht. Es ist ein tiefes Lachen, das aufrichtig aus seinem Inneren kommt. „Weißt du, was das Beste daran ist?“ fragt er, plötzlich innehaltend. Klara sieht ihn noch immer verständnislos an.

„Ich finde das beim besten Willen nicht komisch.“ Mit energischen Worten schüt­telt sie unablässig den Kopf. Sie will sich von ihm losmachen.

„Sei nicht beleidigt, Klara! Ich weiß, dass das ein heikles Thema für dich ist. Aber hör mir zu, was ich erst unlängst herausbekommen habe.“ Klara bleibt und lehnt ihren Kopf gegen den Badewannenrand.

„Der Vater ist auch fremdgegangen. Die Mutter hat aber herausgefunden, dass er ein Verhäl­t­nis mit einer anderen Frau hat. Ab dem Zeitpunkt hat sie dem Vater das Leben zur Hölle gemacht. Sie war drauf und dran, sich scheiden zu lassen. Kannst du dir das vorstellen? Das war in den siebziger Jahren. Damals ist am Land eine Scheidung fast nicht vorgekommen.“ Klara spürt, wie sehr er seine Mutter dafür schätzt. Dieselben kompromisslosen Züge.

„Wie der Vater so der Sohn. Meinst du das?“ Er nickt. „Martin, das ist trivial.“ Die Augen­brauen zusammengezogen klopft sie ihren un­ge­­dul­­­di­­gen Zeigefinger gegen seine Brust. „Und das hört sich nach einer Rechtfertigung an.“

„Aber wie es in der Trivialpsychologie heißt, hab ich besser sein wollen als der Vater. Ich hab’s auch noch offen gemacht.“ Er breitet stolz seine Arme aus. Klara richtet sich auf und rückt von ihm weg.

„Du hast Recht!“ meint sie schließlich herablassend, beide Knie mit ihren Armen umschlos­sen. „Das ist Trivialpsychologie. Alle Männer gehen fremd, wenn sich die Gelegen­heit dafür ergibt, nicht nur dein Vater. Und alle Frauen auch, wenn sie ihr Kellerkind genannt ‚Flittchen’ eines Tages frei lassen.“ Und wenn sie die Fesseln ablegen, die enge Moral­begriffe an­gelegt haben. Und wenn sie ihre Sinnlich­keit und Weiblichkeit nicht länger hinter ver­zag­ten Gesichtern verstecken.

Martin ist gekränkt. „Endlich kann ich mit dir in deiner Sprache über etwas reden, schon weist du mich zurück.“ Sie beantwortet sein Schmollen mit einem gleich­gültigen Gesicht. Er ver­drängt den Impuls, aufzustehen und ins Zimmer zu gehen. Ihm ist etwas eingefallen.

„Du hast aber auch etwas gemeinsam mit meiner Mutter. Ich glaub, das will sie nicht wahr­haben. Deshalb ist sie dir gegenüber so zurückhaltend.“

„Deine Mutter hat auf den ersten Blick wenig Ähnlichkeit mit mir.“ Eine verneinende Kopf­bewegung begleitet ihre Worte. „Ich kenne sie nicht gut, aber ich weiß, dass sie eine sehr bodenständige Frau ist. Niemand würde das jemals von mir behaupten, auch wenn ich in der Lage bin, meinen Alltag zu organisieren und ein Kind großzu­ziehen. Seltsam…“ Sie schüttelt verwundert den Kopf. „…in all den Jahren ist es nie dazugekommen, dass ich deine Mutter näher kennen gelernt habe.“ Sie besucht Martins Familie nur selten. „Wenn wir bei euch sind, drehen sich alle Gespräche nur um den ‚braven Buben’. Als Mutter eines Enkel­kindes ist der Widerstand gegen mich schwächer geworden, das Gefühl hab ich jedenfalls. Vielleicht hat das ungewöhnliche Verhalten von Simon zu einer Veränderung beigetragen. Du weißt ja, was für ein zuvorkommendes Kind er sein kann. Er kann gut zuhören und die richtigen Fragen stellen. Solche, die von den Erwachsenen gerne beant­wortet werden und sie zum Erzählen von der guten alten Zeit bringen.“

Niemand hat Klara eine glückliche Hand für eine gute Erziehung zugetraut. Es liegt nicht an ihrer Erziehung. Klara liebt ihr Kind.

„Meine Mutter hält Abstand zu dir, weil sie meint, dass sie bei allen Studierten auf jedes Wort aufpassen muss, und ja nichts Falsches sagen darf, sonst wird sie sofort gemaßregelt. Das hat sie irgendwann einmal zu mir gesagt. Irgendein Akademiker hat sie bei einer Ver­anstaltung öffentlich beschimpft, weil sie ihm widersprochen hat.“ Er hält inne und schlägt sich leicht auf den Oberschenkel. „Ha, da fällt mir ein, auch darin seid ihr zwei euch ähnlich. Diese Lobhudelei, welche Stütze der ländlichen Ge­sell­schaft sie als Bäuerin sein soll, das kann sie nicht mehr hören. Damit kann meine Mutter überhaupt nichts anfangen. Das erinnert mich daran, wie du mich damals auf der Podiumsdiskussion beschimpft hast.“ Die Worte ent­locken Klara ein wissendes Lächeln. Sie drückt die Lippen ge­gen­einander und nickt zustim­mend.

Im Alltag fühlt sich Martins Mutter von eben dieser Politik, die sie vom Podium herab huldigt, sehr im Stich gelassen.

„Einmal hab ich zu ihr gesagt, ich habe ja auch studiert und mir sagst du doch auch alles ins Gesicht. Sie hat sich weggedreht und gemeint: ‚Bei dir ist das ja was anderes.’“

„Und worin sind wir uns deiner Meinung nach noch ähnlich?“ Sie ist wieder geneigt, zu ihm zurückzurobben. Unterlässt es jedoch. Der Grund dafür lässt sich im Augenblick nicht heraus­fin­den.

„Sie hat einen sechsten Sinn. Ich hab’s nie geschafft, sie anzulügen. Sie hat mich nur ange­schaut und immer sofort gewusst, was Sache war.“ Jetzt kann Klara sich nicht länger zurück­halten und schmiegt sich in seine Arme.

„Auch wenn du meinst, du kannst dich geschickt tarnen. Für mich bist du leicht durch­schaubar.“ Er holt tief Luft.

„Ich würde halt gerne meine Geheimnisse haben.“ Er schnaubt beinahe ärgerlich. Sie setzt sich auf und sieht ihn lange an.

„Ich habe zeitweise Höllenqualen gelitten, wenn ich gespürt hab, dass du mit einer anderen Frau schläfst…“

„Aber warum spürst du denn so was? Das ist doch verrückt!“ Jetzt ist der Ärger deutlich zu vernehmen und er es, der sich aus ihren Armen löst. Er drückt eine Hand an seine Stirn und dreht sich abweisend zur Seite.

„Martin, dafür kann ich doch nichts. Ich kann mich meinen Gefühlen gegenüber nicht blind und taub stellen.“ Sie will mit einer Hand seinen Oberarm berühren. Er entzieht sich ihr. „Hast du dir schon einmal überlegt, dass es eine gewisse Art von Geborgenheit ist, wenn dich wer gut kennt?“ Er denkt flüchtig daran, wie er instinktiv zu ihr gefahren ist, als seine Verzweiflung unerträglich wurde. Da er nicht antwortet, fügt Klara hinzu: „Ich kann doch nichts dafür, dass ich dich so gern hab!“ Die Entschlossenheit in ihren Worten steht in einem krassen Widerspruch zur Ohnmacht, über die sie spricht. Martin sieht sie verwirrt an.

„Warum hast du mich denn so gern?“ Eine sachliche Frage, ihr beinahe unwirsch an den Kopf geworfen. Ein fragender Blick, beklemmendes Herzklopfen und stockender Atem. Ein angedeutetes Kopfschütteln.

„Ich weiß es nicht.“ Ein hilfloser Augenaufschlag begleitet von einem tiefen Seufzen. „Es ist, als ob etwas in mir mich immer wieder dazu bringt … nein, zwingt. Etwas zwingt mich gegen meinen eigenen Willen. Das kann ich nicht benennen. Ich weiß nur, dass es stärker ist als ich.“ Ein Nicken bestätigt ihre Worte.

Martin hört das Geständnis einer Süchtigen. Neptun ist der Gott der unendlichen Liebe, der Gott der Süchte und der Sehnsüchte. Der Dreizack des Meeresgottes findet sich in den christlichen Abbildungen des Teufels wieder.

„Das ist der Grund, warum ich mit dir seelisch verwoben bin und Dinge spüre, die du lieber vor mir verborgen halten willst. Ich kann dir in die Seele schauen und weiß, dass deine Untreue nur eine Tarnung ist. Du willst den kostbaren Schatz in dir verbergen.“ Die Zeit steht still. Er sieht sie lange an. HInHEEEEEEEEEHin und her gerissen zwischen Freude und Vorsicht. ‚Will sie meine Seele besser kennen als ich?’ Schließlich siegt die Vorsicht.

„Ja, auch darin erinnerst du mich an meine Mutter. Sie behandelt mich auch oft wie einen dummen Schulbuben.“ Ihr starrer Blick lässt erkennen, wie sehr er sie gekränkt hat.

„Du hast wirklich das Gefühl, ich behandle dich wie einen dummen Buben? Eher könnte ich das von dir behaupten. Ich bin mir nicht nur einmal blöd vorgekommen so wie du mich behandelt hast.“ Er lä­chelt in sich hinein und spielt mit einem Weidenstäbchen, das vom Wäsche­korb abgegangen ist.

„Das ist ja interessant, dass wir beide bis jetzt nicht gewusst haben, dass wir nur ‚Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Dümmste im ganzen Land’ miteinander gespielt haben.“

„Martin, ich bin echt überrascht. Du überraschst mich. Woher hast du auf einmal einen Zu­gang zu diesen Dingen?“ Ein Schatten huscht über sein Gesicht, kaum wahrnehmbar, ge­folgt von einem wehmütigen Lächeln.

„Je größer das Leid, umso tiefer die Erkenntnisse.“

„Diesem Satz habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Ich hab Hunger, du nicht auch?“

Der Vormittag ist im Nu vergangen. Klara erschrickt, als sie auf seine Uhr sieht. „Du musst Simon abholen!“ Martin springt auf und rennt in ihr Zimmer. Dort wechselt er die zu kurzen alten Pyja­ma­hosen gegen seine Jeans und zieht seinen Pullover über ein altes T-Shirt von ihr. Klara erklärt ihm unterdessen den kürzesten Weg zur Schule. Sie ist dabei, Gemüse aus dem Kühlschrank zu nehmen, als er durch die Küche rennt und schnell noch sagt: „Bis gleich.“ In den Straßen­schuhen und sich die Jacke überwerfend läuft er noch einmal zu ihr zurück und drückt ihr einen innigen Kuss auf die Wange.

***

Simon sieht weg. Er wartet seit zehn Minuten auf ihn. Martin keucht und stützt die Hände auf seinem Becken ab. Er ist den ganzen Weg gelaufen. Zu Fuß war er schnel­ler, als wenn er auf den Bus gewartet hätte. Mit seinem Wagen hätte es noch länger gedauert. In dieser Gegend hätte er um diese Zeit keinen Parkplatz gefunden und wäre überdies auf den stark befahrenen Straßen nur langsam vorwärts gekommen.

„Da sind Sie ja endlich!“ Eine ältere Frau kommt freundlich und zugleich tadelnd auf ihn zu. Sie trägt ein dunkelgraues Kostüm der Sorte „Widersprich mir ja nicht!“ Martin zuckt unwill­kürlich zusammen.

„Es tut mir Leid. Ich hab die Zeit übersehen“, stammelt er verlegen. ‚Woher weiß sie, wer ich bin?’ Simon ist nicht das einzige Kind, das darauf wartet, abgeholt zu werden. Sie scheint seine unausgesprochene Frage zu hören.

„Simon hat mir gesagt, dass sein Vater ihn abholt. Nachdem ich Sie noch nie hier gesehen habe, nehme ich an, dass Sie das sind.“ Ihr Blick ist herablassend und musternd zugleich. Fixe Vorurteile beschränken den Blick. „Oder sind Sie es nicht?“ Es ist eine rhetorische Frage, mit der sie ihn wie ein Schulkind zum Sprechen bringen will.

„Ja, … natürlich bin ich der Vater von Simon.“ Er kommt sich vor wie ein dummer Schulbub. ‚Es liegt also nicht nur an Klara.’ Nachdem er seinen Schutzpanzer abgelegt hat, ist er empfindsam geworden. Zart und verletzlich wie die Haut eines Säuglings.

„Komm Simon, dein Vater ist endlich da!“ fordert sie den Buben mit einem ausgebreiteten rechten Arm auf. Sie steuert auf ihn zu und legt den Arm um seine Schultern. Als wisse sie, dass sie das Kind zu seinem Vater bringen muss. „Die Ähnlichkeit lässt sich nicht leugnen“, meint sie nach einem vergleichenden Blick. Simon senkt den Kopf. Die ersten Bewegungen in Richtung Martin sind zögerlich. Folgsam lässt er sich führen und geht an Martin vorbei. Der verdutzte Blick folgt ihm mit zögernden Schritten.

„Auf Wiedersehen, Herr Weber.“ Er hat keine Lust, sie zu korrigieren.

„Warum läufst du denn so, Simon?“ Die Hände in seinen Jackentaschen läuft er seinem Sohn hinterher. Der Schnee vom Tag davor ist beinahe wieder verschwunden an diesem sonnigen, sehr kühlen Novembertag. Martin trägt seine Jacke offen. Ihm ist noch immer heiß von seinem Lauf zur Schule. Simons Schultasche schaukelt auf dem Rücken hin und her. Er weiß selbst nicht, warum er es plötzlich so eilig hat. An der nächsten Kreuzung muss er stehen bleiben. Die Fußgänger­ampel ist rot. Martin hält den Griff seiner Schultasche und versucht ihn umzudrehen.

„Geh weg!“ schreit Simon plötzlich und rennt wieder los. Die Ampel schaltet erst auf grün, als er beinahe die Straße überquert hat. Martin sieht ihm verwirrt hinterher. Es genügen flotte Schritte neben dem trotzig laufenden Kind.

„Simon, was soll denn das? Du weißt doch, dass ich dich heute und morgen abhole.“ Bevor er eine Antwort erhält, hat Simon die Busstation erreicht. Er springt in den Bus, ehe Martin reagieren kann. Die Tür geht zu. Der Busfahrer lässt ihn noch einsteigen und fährt los. Martin kann sich gerade noch rechtzeitig an einer Stange festhalten. Simon lacht ihn aus. Martin ist verlegen und ärgert sich.

„Klara, warum heiraten wir nicht?“ Er dreht langsam den Kopf und sieht sie flüchtig an. Sein Atem stockt. Die Worte sind ohne sein Zutun aus seinem Mund hervorgequollen. Wie in einem Co­mic folgt eine Sprechblase mit wolkigem „Upps“. Die Art, wie er sie an­sieht, verwirrt sie. Sei­ne Überraschung ist verwirrend, unentschlossen, um nicht zu sagen betreten.

Die Augenbrauen gekräuselt, fragt sie: „Was sagst du denn da?“ und denkt: ‚Das passt doch nicht zu Martin.’ Nicht zu Klaras bisherigem Bild von Martin. „Meinst du das ernst?“ Ihr La­chen ist gekünstelt. Sie will Zeit gewinnen. Ihr Verstand schaltet alle übrigen Wahr­neh­mun­­gen aus. Ein unheilvolles Zeichen für die beiden. Wenn zwei Menschen durch ihre Instinkte miteinander verbunden sind, ist der Verstand wie ein Fiaker, der mit angezogenen Zügeln seine Pferde antreiben will. Sie löst sich aus seiner Umarmung und sieht ihn verstört an.

„Wieso willst du denn plötzlich heiraten? Ich kenne niemanden, der so gegen das Hei­­ra­ten ist wie du.“ Sein Blick ist nicht weniger fragend. ‚Das stimmt nicht’, kor­rigiert sie sich in Ge­dan­ken. ‚Er hat mich schon einmal gefragt, ob ich will, dass er mich heiratet.’ Sie hat damals, als sie mit Simon schwanger war, abgelehnt. Es hat nicht nur an seiner Formu­lierung gele­gen. Nun ist sie wieder geneigt, nein zu sagen. ‚Ist es nur eine Verlegenheits­fra­ge? Aber warum ist er so verlegen?’ Sie kennt die Antwort nicht. Wenn die rationalen Rettungs­anker ihr Gespür außer Kraft setzen, bewegen sich ihre Gedanken in Schleifen. Ohne jemals irgend­wo anzu­kom­men. „Martin, warum sollen wir denn heiraten? Kannst du mir einen guten Grund dafür nennen?“ Er ist noch immer wie gelähmt. Seine eigenen Worte halten ihn gefan­gen. Mit einem Ruck und einem Seufzer befreit er sich aus seiner Befangenheit und streift sich zur eigenen Beruhigung über den Kopf.

„Es war ja nur eine Idee. Wir brauchen nicht mehr darüber reden, wenn du nicht willst.“ Auf einem Ellenbogen abgestützt sieht er sie traurig an. Seine Enttäuschung ist nicht zu über­hören. Trotzdem wirkt er erleichtert. Und irgendwie gekränkt. Hätte Klara sich nicht so sehr in ihren Kopf verstiegen, hätte sie es spüren können.

„Standesamtlich heiraten ist heutzutage nicht mehr notwendig. Du hast die Vater­schaft von Simon ja anerkannt und damit ist das sinnlos. Kirchlich heiraten will ich nicht mehr, weil ich in­zwi­schen aus der Kirche ausgetreten…“

„Das hast du mir gar nicht erzählt“, unterbricht er sie erstaunt. Als Antwort starrt Klara ihn eine Weile wortlos an. „Das ist dein Bier. Es überrascht mich nur. Ich wundere mich schon lange, warum ich noch immer Kirchensteuern bezahle, obwohl ich mit diesem Verein nichts mehr zu tun hab.“

„Mir ist es nicht um die Kirchensteuer gegangen. Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich Spiritualität anders leben will, als es in der Kirche möglich ist.“ Er sieht sie fragend an. „Für mich reden die meisten Gläubigen nur von der Liebe und von Gott, aber sie lieben nicht und erkennen sich selbst und andere nicht als göttlich an.“ Ihre Worte versinken in einem Meer aus Gedanken. „Ich hab schon als Kind gewusst, dass mein Gott …“ Sie räuspert sich. „…besser gesagt, meine Göttin nicht berech­nend ist. Weißt du, zu Ihr passt die penible Abrechnung von Bravsein und Bösesein, wie sie in der Kirche gepredigt wird, einfach überhaupt nicht. Ich hab das gehasst als Kind, diese Paranoia, die mir da angezüchtet worden ist, weil dieser Gott angeblich alles sieht, was ich falsch mache und sogar meine schlechten Gedanken kennt und mich streng dafür bestrafen wird.“ Klaras Groll gegen ihre religiöse Erziehung ist für Martin nicht nachvollziehbar. Er hebt teilnahms­los die Schultern.

„Mir war das schon immer egal, was unser Pfarrer gesagt hat. Das war doch keine ernstzu­nehmende Persönlichkeit.“ Klara beneidet ihn um seine Leichtigkeit bei diesem Thema.

„Es geht mir nicht nur um den Pfarrer. Für mich ist das Christentum, so wie es gelebt wird, keine Religion für Kinder. Du kennst doch den Satz: ‚Wenn das Weizen­korn nicht in die Erde fällt und stirbt…’ Kinder sind die jungen Triebe. Der zarte Spross wird hart angefasst und zurechtgestutzt wie ein alter Baum…“ – Sie rezitiert ein Bühnenstück. Sobald sie es begreift, pfeift sie sich innerlich selbst zurück. „Die Erwachsenen sind doch nie behutsam mit uns umgegangen. Oder kannst du dich daran erinnern?“ Er schüttelt verneinend den Kopf. „Und sie waren in den seltensten Fällen nachsichtig. Und dann predigen sie dir immer ihren verzeihenden Gott und von seiner Liebe, die in keinster Weise über sie selbst zu spüren ist. Wer soll sich denn da auskennen?“ Sie sinniert über ihre eigenen Worte nach. „Ich glaube, dass kleinliche Leute einen kleinlichen Gott haben so wie friedliche Völker friedliche Götter und Göttinnen haben.“ Martin seufzt.

„Können wir jetzt wieder über uns reden?“ Seine Worte erreichen sie nicht. Er kann es an ihrem Blick erkennen. An manchen Tagen hat er den Eindruck, Klara verheddert sich in ihrem eigenen inneren Gestrüpp. So wie jetzt. Sie reagiert auf seine Worte nicht, so eindringlich sie immer sein mögen.

„Ich durfte niemals so sein wie ich bin. Wenn mir nach Lärmen und Herum­springen war, hat es immer gleich geheißen, ruhig sein. Lebendig sein war verboten. Ich kann mich noch gut an einen Sonntagnachmittag erinnern. Da bin ich auf unse­rer Holzbank in der Küche herumgeturnt und war selig. Wie ich runter gefallen bin, hab’ ich mich in die Zunge gebissen. Das sieht man noch.“ Sie streckt ihre Zunge heraus. Ein halber Zentimeter Unebenheit. „Meine Mutter hat mich geschimpft, anstatt mich zu trösten.“

„Ja, das kenn ich auch. Wenn ich mir wehgetan hab, dann war das immer nur meine Schuld, weil ich so wild war.“ Martin spricht darüber, als sei es nicht der Rede wert. Er hebt mit ironi­schem Blick strafend den Zeigefinger wie seine Eltern damals.

„Das ist ziemlich gefühllos, wenn ein erwachsener Mensch ein Kind schimpft, weil es sich wehgetan hat. Gefühle hat es bei uns in der Familie kaum gegeben. Wenn ich heute an meine Kindheit denke, frag ich mich, wie ich das überhaupt überlebt hab. Und wenn ich den Simon in meinen Armen halt, dann spür ich, wie sehr ich das vermisst hab als Kind.“ Er hält ihr seine Arme entgegen. Sie fällt hinein. Ohne die Geborgenheit einen Augenblick zu genie­ßen setzt sie fort. „Als Kind hat man mir klar gemacht, dass sämtliche leiblichen Be­dürf­nis­se ein Teufels­werk sind, das mir mit aller Gründlichkeit ausgetrieben werden muss…“ Er berührt ihren Busen.

„Das haben sie bei mir nicht geschafft. Ich esse gerne, ich trinke gerne und ich ficke gerne. Also war die Kirche bei mir erfolglos. Vielleicht hast du mich ja deshalb so gern?“ Er lacht sie schel­misch an.

„Martin, mir ist jetzt nicht nach herumalbern.“ Ein tadelnder Ton begleitet von einem Klaps auf die Schulter. Wortlos gibt sie ihm mit ihrem Blick zu verstehen, dass sie vorhat, ihr tiefgründiges Gespräch fortzusetzen. „Ich will dir etwas erklären, damit du mich besser ver­ste­hen kannst.“

„Bitte Klara, sei nicht immer so ernst. Können wir nicht über etwas Anderes reden?“ Sie haben einander erst seit sechsunddreißig Stunden wieder gefunden und allen Grund, sich darüber zu freuen.

„Ich hab dir schon gesagt, mir ist jetzt nicht nach Blödeln. Kann ich dir nun noch etwas er­zäh­len oder nicht?“ Er nickt widerwillig. „Es ist, als ob man der Seele die Ankunft hier auf der Erde verweigert. Kaum hab ich Wurzeln getrieben, wurden sie mir gleich wieder abgeschnit­ten…“ Er fällt ihr ins Wort.

„Ich glaub, dass das an deinem Wesen liegt. Du bist doch nicht so ganz von dieser Welt…“ Ein fragender Blick aus seinen Armen.

„Du meinst, ich bin von Grund auf so?“ fragt sie mit stockender Stimme. Er nickt bestätigend. Sie richtet sich auf und robbt zum Wandschoner.

„Weißt du, ich glaube, dass ich so geworden bin, weil mir meine leiblichen Bedürf­nisse als Kind verweigert worden sind. Essen gab es nur nach einem fixen Zeitplan, und nicht wenn ich Hunger gehabt hab. Kuscheln, Geborgenheit, Aufmerk­samkeit, Wärme, das hab ich kaum erlebt. Und dabei ist das der Lebenskitt zwischen Leib und Seele. Wenn das jemand bekommt, dann kann ein Mensch starke Wurzeln bilden und sich fest in der Erde verankern. Und je tiefer die Wurzeln sind, umso mehr kann ich in den Himmel hineinwach­sen.“ Sie hebt beide Arme und richtet einen entrückten Blick nach oben.

„So siehst du aus wie ein Pfarrer bei der Messe.“ Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht. Hätte er nicht gespürt, wie berührt sie von seinen Worten ist, hätte er noch etwas ange­fügt. Ungern erinnert er sich an ihre Rechthaberei, an ihr herablassendes Verhalten ihm gegenüber. ‚Sie weiß immer alles ganz genau, sie hat die absolute Wahrheit für sich gepachtet. Und ich bin in ihren Augen ein weltfremder Dummerjan, weil ich mit ihrer Welt nichts anfangen kann.’ In dieser Überheblichkeit erinnert sie ihn ebenfalls an einen Pfarrer. Es gibt keinen Anlass, sie jetzt damit zu kränken.

„ ‚Dein Wille geschehe’ ist keine Botschaft für Kinder.“ Klara redet entrückt weiter. Martin erinnert sie an eine Dozentin an seiner Universität, der es auch immer völlig egal zu sein schien, ob die Anwesenden an ihren Inhalten interessiert waren oder nicht. „Weißt du, wir Menschen unterscheiden uns durch den freien Willen von anderen Ge­schöp­fen. Das ist der Sündenfall. Deshalb sind Kinder und Tiere Gott näher als wir Erwachsenen mit unse­rem kalten Verstand und unserem egoistischen Wollen. Schlimm finde ich, dass wir die Tiere dadurch auch noch unserem Willen unterwerfen, sie einsperren und quälen.“ Ein verständ­nis­­loser Blick begleitet von ei­nem Kopf­schüt­­­teln.

„Du hast doch auch einmal eine Katze gehabt und sie in deiner Wohnung eingesperrt.“

„Der Kater ist mir zugelaufen. Was hätte ich denn machen sollen? Weißt du denn nicht, dass es ein Glück ist, wenn einem eine Katze zuläuft?“ Sie versinkt in der Erinnerung an ihren Ka­ter Anubis.

„Kann es sein, dass du jetzt den Faden verloren hast? Ich kenn mich jedenfalls nicht mehr aus, worauf du hinaus willst.“

„Nein, was ich eigentlich sagen will, ist, Kinder müssen zuerst ihren eigenen Willen ken­nen lernen und ihr Wollen herausfinden. Wir können aber erst gar nicht heraus­finden, was unser eigener Wille ist, weil wir von klein auf tun müssen, was andere uns sagen. Und dann schieben Eltern wie Großeltern auch noch diesen engherzigen Gott vor, dass der das verlan­gen würde, nicht sie. Damit erkläre ich mir, warum die meisten Erwachsenen so egois­tisch und macht­gierig sind. Im Erwachsenenalter haben wir endlich die Macht, unseren eigenen Willen durchzusetzen. Und dabei vergessen wir, dass es längst an der Zeit wäre, uns an ‚dein Wille geschehe’ zu erin­nern.“ Sie war sechsunddreißig, als sie begriffen hat, was dieser Satz bedeutet: Dein Wille geschehe. „Du glaubst natürlich, dass wir unser Leben nach unse­ren eigenen Vorstel­lun­gen gestalten können. Natürlich haben wir diese Entscheidungs­frei­heit, aber sie bläst das Ego auf und lässt die Menschen gefühllos werden für andere. Deshalb glaube ich, dass das Angebot der Entscheidungsfreiheit die Verführung im Paradies war. Leider müssen wir im Lauf unse­res Lebens feststellen, dass uns das nicht wirklich glück­lich macht. Wir entfalten nicht unsere eigenen Talente und vertreten Meinungen, die herzlos sind…“

„Weißt du, kaum glaub ich, ich kann dir folgen, schon redest du wieder über etwas, mit dem ich absolut nichts anfangen kann.“ Unterbricht er sie und schüttelt wieder den Kopf. Sie sieht ihn lange an.

„Was gibt es da für dich nicht zu verstehen? Du hast doch die letzten Monate begreifen müs­sen, dass du dein Leben nicht nur nach deinen eigenen Vorstellungen leben kannst. Deine Depres­sion hat dich auf den Gedanken gebracht, dass du dein Leben ändern musst. Sonst wärst du heute noch immer ein völlig anderer Mensch und vorgestern nicht zu mir gekommen. “ Sie sieht in fragend an, als fürchte sie, sie könne unrecht haben.

„Ich bin zu dir gekommen, weil mir plötzlich bewusst geworden ist, wie gern ich dich noch im­mer hab.“ Ihr Gesicht strahlt wie von einem weißen friedlichen Lichtschein umgeben. ‚Sie ist wirklich nicht von dieser Welt’, denkt er zum ersten Mal ohne Groll. Im Gegen­satz zu der Zeit vor seinen Depressionen hat er sich damit versöhnt, eine Frau zu lieben, die er intellektuell nicht verstehen kann. Etwas in ihm, das er nicht benennen kann, versteht sie und freut sich über ihr Wesen. Sie schmiegt sich an ihn.

„Spätestens mit Ende Dreißig müssen wir lernen, unseren eigenen Willen zu überwinden und uns dem …“ Ihr fehlen die Worte. Selbst in seinen geborgenen Armen kann sie ihr Thema nicht beenden. ‚Sie hat sich noch immer darin verheddert’, seufzt er in Gedanken und ent­geg­net gleichzeitig streng:

„Sag jetzt ja nicht, wir müssen uns dem Höheren unterordnen!“ Sie holt tief Luft, nach Worten ringend.

„Du musst aufhören zu glauben, dass es eine hierarchische Weltordnung gibt. Dann ist das viel leichter zu akzeptieren. Es geht nicht um Unterordnung. Es geht darum, dass deine Seele einen guten Grund hat, weshalb sie hierher gekommen und Mensch geworden ist. Du bist freiwillig da und nicht weil du dazu verdammt worden bist oder weil du eine karmische Aufgabe zu erfüllen hast.“ Er sieht erstaunt auf sie herab.

„Das hört sich jetzt aber gar nicht nach dir an.“ Sie seufzt Worte der Erklärung su­chend.

„Wir begeben uns freiwillig in diese Mühsal, die sich polare Welt nennt, weil wir etwas begrei­fen und heilen wollen. Unse­re Seele kommt hierher, weil sie eine Aufgabe hat, die sie aus freien Stücken erfüllen will. Deshalb mein ich, sie ist nicht karmisch, weil karmisch immer gleichgesetzt wird mit ‚wir müssen’. Wir müssen gar nichts. Als ich das begriffen habe, habe ich vieles verstanden, was ich als Kind in der Kirche gehört habe. Aber ich habe es zu einem Zeitpunkt gehört, als ich es noch nicht begreifen konnte. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die christliche Lehre keine Religion für Kinder ist. Als Kinder können wir diese Lehre nicht begreifen. Und weil wir sie nicht begreifen können, bekommen wir unnötig Schuld­gefühle.“ Sie sieht ihn an, um her­aus­­zufinden, ob er sie verstanden hat.

„Das ist etwas, was ich bei dir nie verstehen werde!“ wendet Martin ein. „Du schimpfst auf die Kirche und hast gleichzeitig eine große Sehnsucht nach dem, was sie verspricht.“

„Was heißt hier, was sie verspricht? Die Kirche hat kein Monopol auf unsere spirituellen Be­dür­f­nisse. Den Glauben ‚an den einzig wahren Gott’ gibt es nicht. Es hat immer viele Göt­ter und Göttinnen gegeben. Die Christen waren die ersten, die ihren Gott anderen mit bru­ta­ler Gewalt aufgezwungen haben. Dass sie Menschen massenweise abgeschlachtet haben war sicher nicht im Sinne Jesu Christi. Das nehme ich den Kirchenherren und den Herrschenden übel, dass sie eine Gottheit für ihre Zwecke und ihr Machtstreben missbraucht haben.“ Sie hebt bestimmt ihren Zeige­finger. Beinahe an­klagend. „Das hierarchische Welt­bild hat sie sei­ner­zeit dazu ermächtigt, Unsummen an Geld von Bauern und Bäuerinnen heraus­zu­pressen, um prunk­volle Paläste und Burgen, Kirchen und Klöster zu bauen. Das ist in meinen Augen Gotteslästerung, genauso wie es eine Gottes­lästerung ist, überhaupt von einem hierarchi­schen Gesellschaftssystem auszuge­hen und uns ‚Normalsterbliche’ ständig als unwürdig hin­zu­­stellen. Wir sind ein Teil der Göttlichkeit und können jederzeit selbst mit IHM und mit IHR, der Großen Göttin, in Kontakt treten.“

„ ‚Mit ihr’ das hört sich seltsam an. Ich hab mir noch nie überlegt, dass Gott eine Göttin sein könnte.“ Martin lächelt belustigt über seine Gedanken. Klara sieht ihn ernst an.

„Das ist für dich als Mann ja auch eher ein Gott. Ganz abgesehen davon, der christliche Mann-Gott ist zu Unrecht in unseren Geschlechterstreit hineingezogen worden. Er stammt nicht aus der polaren Welt. Wenn du in einer christlichen Messe aufmerksam bist, wirst du hören, dass es nur darum geht, das Männliche zu überhöhen und das Weibliche zu ernied­rigen…“

„Klara! Du übertreibst wieder einmal.“ Martin unterbricht sie ohne Vorwarnung.

„Hast du schon einmal genau hingehört?“ Er verneint kopfschüttelnd.

„Da ist nur von „IHM“ die Rede, ER ist groß und barmherzig. Die Mutter Gottes ist nur eine Randfigur, die sich um die hoffnungslosen Fälle kümmern soll.“

„Du meinst, Maria ist die Pflichtverteidigerin für alle, die sich keine ordentliche Vertretung vor dem höchsten Gericht leisten können?“ Sie seufzt und setzt sich wieder auf. Nachdem sie ihre Gedanken geordnet hat, antwortet sie ernst:

„Wir Frauen haben keine große mächtige Göttin als Vorbild in unserer religiösen Kultur. Dafür heißt es im Vater unser: Denn dein ist die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit Amen. Das ist einer der wichtigsten Unterdrückungsmechanismen. So sind wir Frauen beherrschbar. Verstehst du, Martin?“ Er schweigt einen Augenblick.

„Kann es sein, dass dir dein Feminismus zeitweise ein Schnippchen schlägt?“ Martin amü­siert sich trotz Klaras Bitte. Sie bleibt humorlos.

Nach dem Gespräch mit dem Therapeuten auf dem Weg nach Hause sah er ein Schild: Wien so und soviel Kilometer. Da entschied er sich, zu ihr zu fahren.

„Wir haben so schon Probleme genug…“ Sie unterbricht ihn und spürt Ärger aufsteigen.

„Wir haben genau deshalb Probleme, weil du mit mir n i c h t über dich reden willst!“ Sein Blick ist starr. Er hält den Atem an.

„Wenn ich mit dir über mich geredet habe, dann…“ Ein Atemzug entfacht ein Feuer. „…dann warst du immer die großartige Therapeutin, und ich der dumme Bub. Das ist bei Samuel nicht anders. Der hat auch immer nur gemeint, ich muss diese Krise jetzt durchstehen, und mir überlegen, was ich in meinem Leben verändern will.“ Martin zog sich daraufhin enttäuscht zurück. „Der hat gut reden!“ Er hat sich in einen Feuersturm geredet.

„Darf ich etwas dazu sagen?“ Seine Antwort ist ein entschiedenes Nein. Mit Daumen und Zeigefinger aneinandergepresst fährt er gefasst fort: „Lass mich dir erst etwas klar machen.“ Sie nickt. Er setzt sich auf und atmet tief durch. Der Atem kann erst ein Feuer entfachen und dann wieder dämpfen. Im Schneidersitz an den Wandschoner gelehnt sieht er sie ernst an.

„Wenn es mir nicht gut geht und ich rede mit dir darüber, dann ist es mir meistens so vorgekommen, dass du dich in eine wissende Position über mich begibst und auf mich herabschaust.“ Er macht die Bewegung mit seinen Händen nach. „Dadurch geht es mir natür­lich noch schlechter. Wenn du mir von oben herab einen gut gemeinten Rat gibst. Wenn du mir erklärst, wie ein Problem zu lösen ist, gibst du mir das Gefühl, dass ich unfähig und dumm bin. Das ist, wie wenn du mir noch einen Tritt gibst, obwohl ich eh schon am Boden lieg. Wer mit seinem Leben nicht zufrieden ist, ist nicht fähig, seine Probleme in den Griff zu bekommen … Warte!“ Er wehrt sie mit erhobenen Händen ab. Klara wollte einwenden, dass „ein Problem in den Griff bekommen“ nicht ihre Art ist, an Probleme heranzugehen.

„Es gibt sogar Menschen, die meinen, dass alles doch gar nicht so schlimm ist. Das hat der erste Therapeut zu mir gesagt. Der, der mich so wütend gemacht hat. Woher will er das denn wissen?“ Ein Problem bagatellisieren ist immer verletzend. „Dadurch hat er mir auch noch das Gefühl gegeben, dass ich nicht selber weiß, was mit mir los ist. Wieso kann sich ein anderer Mensch anmaßen, besser als ich zu wissen, was mit mir los ist oder was ich brauch? Das hör ich bei dir auch oft heraus. Das ist es, was mich so aufregt.“

Klara hat das Gefühl, wieder am Pranger zu stehen. Doch dieses Mal hört sie gleichmütig zu. Sie vollzieht innerlich nach, was in ihm vorgeht.

„Warum hat dich das gestern nicht daran gehindert, zu mir zu kommen?“ Er sieht sie über­rascht an.

„Ich glaub, gestern bin ich einfach meinem Instinkt gefolgt. Ich hab nicht darüber nach­gedacht. Und wenn ich jetzt so nachdenke, fällt mir auf, dass ich gestern keine Angst mehr gehabt hab, dass ich mich dir unterlegen fühle, wenn ich dir sag, wie es mir wirklich geht.“ Sein Gesicht dokumentiert ein Erstaunen. Ihres ist bewegt.

„Wenn es mir schlecht geht, will ich gar kein Problem lösen. Ich kann mich dann selbst nicht leiden und bräucht ein bisschen Sympathie“, gesteht er ihr nach einer Weile.

„Du meinst Zuneigung?“ Sie sieht ihn fragend an.

„Vielleicht noch mehr als das.“ Er erinnert sich. „Wie es mir so schlecht gegangen ist, dass ich geglaubt hab, jetzt halt ich es nicht mehr aus, da hab ich nur …“ Er stockt.

„ …getröstet werden wollen“, ergänzt sie. Er nickt zufrieden.

„Wissen tust du’s eh.“

Klara holt sich eine Zigarette.

„Zu mir kommen Menschen in eine astrologische Beratung, weil sie wissen wollen, welche Möglichkeiten sie haben, damit sie ihre Probleme lösen können.“ Sie klopft die Zigarette auf dem Filter gegen das Nachtkästchen. „Den meisten fällt gar nicht auf, dass sie sich die Antworten selbst erarbeitet haben. Das ist mein Geheim­nis und der Grund, warum die Menschen gerne zu mir kommen.“ Sie nimmt den ersten Zug und sieht ihn erwartungsvoll an. „Aber bei dir kommt das immer ganz anders an. Ich weiß auch nicht warum.“

Keine Reaktion.

„Weißt du, ihr Männer habt im Allgemeinen ein seltsames Denken. Immer geht es nur um Unterlegenheit oder um Überlegenheit. Warum könnt ihr Menschen nicht einfach auf ein und derselben Ebene begegnen?“ Sie nimmt einen tiefen Zug.

„Red jetzt nicht von ‚den Männern’. Ich kenn deine Vorbehalte gegen uns. Wir reden hier jetzt über dich und mich!“ Sie stellt erstaunt fest, dass es ihm wieder besser geht.

„Tut mir Leid, Martin.“ Sie beugt sich zu ihm und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich will damit nur sagen, dass ich mich dir nicht überlegen fühl, nur weil du zu mir kommst und mir sagst, dass du Probleme hast. Das müsstest du in der Zwischenzeit wissen!“ Er erwidert ihren Blick nicht. „Aber ich weiß, dass das für dich ein Thema ist. Du tust dich deshalb so schwer damit, mit mir über dich und deine Schwierigkeiten zu sprechen, weil du Angst hast, ich könnte mich dadurch über dich stellen.“

„Das hab ich ja vorhin gesagt.“ Er schnaubt und sieht sie unwirsch an.

„Je mehr du dich öffnest, umso mehr steigst du in meinem Ansehen, und nicht umgekehrt.“

„Aber ich kann mich doch oft nicht öffnen, weil du mir immer gleich mit deinem Therapeu­tengehabe kommst und dich besserwisserisch über mich stellst!“ Die Hand über dem Kopf deutet auf das unliebsame Oben.

„Das ist nicht fair. Ich bin schon vor Jahren daraus ausgestiegen und nur noch im Krisenfall dahin zurückgeschlittert. Halt mir nicht etwas vor, was schon Vergangenheit ist!“ Er denkt lange darüber nach, ohne ein Wort zu sagen.

„Martin, willst du mich wieder ärgern.“ Sie nimmt genervt einen Zug von ihrer Zigarette. Das Nikotin kann sie nicht beruhigen.

„Warum nicht? Du bist immer du selber, wenn du wütend bist.“ Sie sieht ihn erstaunt an. Augenblicklich dämpft sie ihre Zigarette aus und wirft sich lachend auf ihn.

„Seit wann hast du Depressionen?“ fragt sie nach dem Herumalbern. Er fährt sich mit beiden Händen über sein Gesicht. „Willst du nicht darüber sprechen?“ Nach einigem Zögern gesteht er ihr: „Seit März.“

Erstaunte Sprachlosigkeit. Die Augen sprechen ohne Worte. Schließlich meint sie: „So lange schon? Und du hast mir nichts gesagt? Wir haben in der Zeit doch miteinander telefoniert und du warst auch hier, um mit dem Simon etwas zu unternehmen.“

Ihr Gewissen erinnert sie daran, wie herzlos sie ihm gegenüber damals war und ihm ständig aus dem Weg gegangen ist.

„Das war eine willkommene Ablenkung.“ Ihm fällt ein, dass Simon, solange er wieder verschwunden ist, nicht derartige Anstalten gemacht hat wie heute Morgen. „Einmal hat er gemeint, er will nichts mehr mit mir unternehmen. Aber das nächste Mal hat er sich dann doch wieder gefreut, dass wir einen Ausflug auf eine Burg gemacht haben.“ Die Hand fällt resigniert in seinen Schoß.

„Vielleicht ist es doch besser, wir, ich meine, der Simon und ich, halten es wie bisher. Er will offenbar nicht, dass wir mehr Kontakt haben.“ Klara spürt einen Stich in der Herzgegend.

„Nimmst du dir Simons Verhalten derart zu Herzen?“ Er antwortet nicht. Sie will etwas sagen, weiß aber nicht, was. Schweigend sitzen sie eine Zeitlang nebeneinander. Bis sie, ohne darüber nachzudenken, zu sprechen beginnt.

„Es tut mir Leid, dass der Simon sich dir gegenüber so verhält. Ich red vor ihm nie schlecht über dich, das musst du mir glauben. Aber er wird halt doch so einiges selber mitbekommen.“ Ein vorsichtiger Blick findet keine Erwiderung. Martin senkt schuldbewusst den Kopf. „Andere Kinder haben einen Vater, der sie von der Schule abholt. Ihn hol immer nur ich ab, oder wenn ich nicht kann, die Rickie oder der Walter. Er duldet in der Zwischenzeit keinen Mann mehr, der sich als sein Vater ausgibt, weil er dich zu sehr vermisst hat. Er ist ein Steinbock, für den ein Vater wichtiger ist, als für so manche andere Kinder.“ Sie spürt sofort die Unstimmigkeit, die ihre Worte auslöst.

„Bitte Klara, erklär mir das nicht schon wieder mit der Astrologie. Was soll die Sterne bitteschön mit mir und mit Simon zutun haben? Jedes Kind wünscht sich einen Vater, ob Stein­bock oder nicht.“

Sie haben schon einmal über dieses Thema gestritten. Klara neigt sich zu ihm hinab und drückt ihm entschuldigend einen Kuss in seinen geschorenen Kopf.

„Tut mir Leid, Martin. Manchmal vergess ich einfach, dass für dich die Bedürfnisse von Kindern nichts mit ihrem Sternzeichen zu tun haben. Dabei zeigt ein Kinderhoroskop, dass sie unterschiedliche Anforderungen an ihre Eltern haben. Die einen brauchen mehr Gebor­gen­heit, die anderen mehr Freiheit, das sind die Nestflüchter… Aber ich will jetzt mit dir nicht über astrologische Deutungen reden.“ Ein erleichterter Blick. „Ich sag dir ja auch nicht, wie du einen Estrich machen sollst.“

„Das würde mich auch sehr wundern.“ Er schmunzelt. „Es würde mich sicher aufregen, wenn du dich in eine Sache einmischst, von der du keine Ahnung hast.“

„Siehst du?“ Sie lächelt ihn schelmisch an. „Und dann willst du mir ins Handwerk pfuschen, obwohl du gar nichts von Astrologie verstehst, geschweige denn etwas davon hältst.“ Er lächelt einsichtig zurück.

„Martin, hast du dir je Gedanken darüber gemacht, was dein Bild mit der geborstenen Stau­mauer zu bedeuten hat?“ fragt sie, nachdem beide sich nebeneinander hingelegt haben. Sein Kopf ruht auf ihrer Schulter.

Mit einem Kopfnicken meint er: „ Ich hab erst gestern mit dem Therapeuten darüber gespro­chen.“ Er sieht zu ihr hoch. „Er hat gleich nach dir gefragt.“

„Wieso denn nach mir?“ Ihre Augenbrauen kräuseln sich.

„Nein, er hat gefragt, ob es eine Frau gibt, die ich liebe.“ Ihre bezaubernden Augen strahlen ihn an. Sie drückt ihn an sich. Den Kopf in ihre Schulter gegraben braucht er sie nicht anzusehen.

„Er hat gemeint, ich hätt mir offenbar in die Hosen gemacht vor einer tieferen Beziehung mit dir und hab deshalb die Geschichte mit der Margarete inszeniert.“ Ihre Hand an seiner Wange bringt ihn dazu, sie anzusehen.

„Und? Hast du?“

„Was? Das inszeniert?“

„Nein. Hast du Angst vor einer tieferen Beziehung mit mir?“

Sie lässt ihn los, richtet sich auf und lächelt ihn an.

„Sicher hab ich Angst davor. Und du?“

„Ich mach mir jetzt schon in die Hosen.“ Sie stürzen sich aufeinander. In den neun Jahren ihrer Beziehung hatten sie niemals soviel Spaß miteinander.

***

„Kannst du dich erinnern, wie die Kamilla im Sommer erzählt hat, dass sie den Jan über alles hasst und dass dieser Hass unwiderruflich ist.“ Rickie zieht nachdenklich die Augenbrauen zusammen und nickt.

„Damals hab ich gespürt, dass es zwischen mir und dem Martin noch nicht endgültig aus ist. Ich hab ihn nie gehasst. Ich war nur zornig. Der Martin hat mich wütend gemacht. Das Interessante war für mich, dass diese Wut mir Selbstvertrauen gegeben hat. Und durch dieses Selbstvertrauen hab ich mich wieder mehr auf ihn einlassen können, weil die Wut und das Selbstvertrauen wie eine starke Verankerung sind. Dadurch heb ich nicht ab und verlier nicht die Verbin­dung zur Realität, so bodenlos tief unsere Auseinandersetzungen auch sind. Du weißt, ich brauche die Tiefe. Nur dort bewege ich mich wie ein Fisch im Wasser.“ Bestätigendes Kopfnicken. „Es gibt zwischen uns zwei, zwischen dem Martin und mir, nur die Möglichkeit: entweder mehr oder gar nicht.“

„Wie meinst du das?“ Rickie sieht sie fragend an.

Klara seufzt. „Es ist nicht leicht zu erklären.“ Sie überlegt und seufzt noch einmal. „Das, was jetzt zwischen dem Martin und mir passiert ist, das weiß ich schon, seit wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Er hat diese Veranlagung zur Tiefe, die er mir am Anfang nur im Bett gezeigt hat. Diese Tiefe können wir nur erreichen, wenn wir uns sexuell aufeinander einlassen. Und diese Tiefe ist die Voraussetzung dafür, dass wir zwei seelisch wachsen können.“

Bei ihren Worten hebt sie lächelnd den Kopf und sieht Rickie unsicher an. ‚Wird sie jetzt endlich nachvollziehen können, welches Band es zwischen Martin und mir gibt?’ Rickie hört täglich schaurige Geschichten über unglückliche Ehen und Zusammenleben, über zerstörte Frauenleben und das viele Leid, das unerfüllte Hoffnungen mit sich bringen.

„Mir wäre lieber gar nicht, wenn ich mich zwischen mehr oder gar nicht entscheiden kann“, sinniert Rickie vor sich hin. Den Kopf auf einem Handballen gestützt, die andere Hand dreht ihre Zigarette am Aschenbecherrand. „Ich sag dir ehrlich, dass ich nicht daran glaub. Es klingt nicht sehr real, was du da sagst. Aber wissen tu ich es auch nicht. Vielleicht lebst du einfach in einer anderen Welt als ich.“

Davon ist Klara schon lange überzeugt.

„Komm her zu mir und sieh mich nicht so bös an.“ Er offeriert ihr den Platz neben sich auf dem Bett. Sie merkt augenblicklich, wovon er spricht und fährt sich mit beiden Händen über ihr Gesicht, um es zu entspannen. Ohne länger darüber nachzudenken, geht sie zu ihm und setzt sich an den Bettrand. Martin sitzt mit ausgestreckten, überschlagenen Beinen gegen das Haupt des Bettes gelehnt und sieht sie fragend an.

„Was ist mit dir? Ich komm da nicht mehr mit. Einmal so, dann wieder so…“ Er hebt und senkt hilflos seine Arme und legt sie wieder zurück in seinen Schoß. Tief Luft holend streicht er sich mit einer Hand über seinen geschorenen Kopf.

„Ich muss dir etwas sagen, aber ich weiß nicht wie.“ Sein Blick ist unsicher, als er sie kurz ansieht. Dann starrt er gedankenverloren gegen die Decke.

„Martin, du weißt, dass ich nicht sehr geduldig bin. Spann mich nicht dauernd auf die Folter.“ Ihre Stirn kräuselt sich, als sich ihre Blicke treffen.

„Du musst jetzt aber Geduld mit mir haben.“ Mit Unbehagen spürt er, wie sich der tiefe Graben in ihm auftut, der ihn die vergangenen Monate immer wieder in Angst und Schrecken versetzt hat.

„Was ist los mit dir? Du wirkst so … so verstört.“ Er versteckt seinen Blick hinter einer vor­ge­haltenen Hand.

„Dräng mich jetzt nicht!“ Wieder mischt sich in seine Bitte eine Forderung. Er schüttelt den Kopf. ‚Schämt er sich am Ende? Oder hat er etwas angestellt, was er mir beichten will? Erzählt er mir jetzt am Ende, dass er das Geld doch unterschlagen hat?’ Sie seufzt. Als er endlich zu sprechen beginnt, hört sie ihm aufmerksam zu.

„Mir ist es in letzter Zeit sehr schlecht gegangen, und…“ Wieder verstummt er. Sie wartet und hindert sich daran, etwas zu sagen. „…wie du mir damals die Schlüssel abgenommen hast, ist für mich eine Welt zusammen gebrochen.“

Sie hat bemerkt, dass er gekränkt war. ‚Aber dass er sich diese Kleinigkeit derart zu Herzen genommen hat, wäre mir doch aufgefallen.’ Mit zusammen gezogenen Augenbrauen denkt sie darüber nach und schüttelt leicht den Kopf.

„Du hast damals gar nicht mitbekommen, in was für einem Zustand ich bin – äh, war. Du machst doch sonst immer den Eindruck, alles sehen zu können. Aber damals hast du einfach nicht kapiert, was mit mir los war.“ Er breitet seine Arme vor ihr aus. Sein Blick ist verzweifelt.

Klara spürt, wie viel Selbstmitleid darin liegt. Ehe sie einen Gedanken für die Antwort fassen kann, grübelt sie darüber nach, warum ihr damals seine seelische Krise nicht aufgefallen ist. Es fällt ihr ein, dass er die Schlüssel behalten wollte und Simon als Ausrede dafür benutzt hat. Sie hat nicht hingespürt. Ihre Wut hat während dieser Zeit undurchdringbare Mauern gegen ihn errichtet.

„Mir ist es damals saudreckig gegangen, und du hast das nicht einmal bemerkt!“ Er wischt sich mit beiden Händen über sein Gesicht. Klara erhebt sich.

„Bleib hier, verdammt noch mal und hör mir zu!“ Er packt sie am Handgelenk. Mit der anderen Hand verdeckt er sein Gesicht. Er ist den Tränen nahe.

„Aber ich will dir doch nur ein Taschentuch holen.“ Er lässt sie los.

„Willst du ein Stofftaschentuch? Dann muss ich in Simons Zimmer rüber gehen.“

Er schüttelt wortlos den Kopf. Sie nimmt einen Karton mit Stecktüchern aus der Lade und reicht ihm diesen. „Danke.“ Er schnäuzt sich und sieht sie mit verweinten Augen an.

„Verstehst du immer noch nicht, wie es mir geht?“

„Warum bist du so aggressiv?“ Als sie keine Antwort erhält, wird sie unruhig. Gleich­zeitig versteht sie, was Rickie einstecken muss, wenn es ihr nicht gut geht. Sie hat sich sehr gut überlegt, wer ihre Freundin sein soll. Eine, die mit Frauen wie ihr umgehen kann. Rickie ist durch ihre Arbeit an der Frauenberatungsstelle daran gewöhnt, aggressives Verhalten zu ernten, wenn der Schmerz nicht anders ausgedrückt werden kann. Vielleicht ist das der Grund, warum sie die immer wieder kehrenden Vorwürfe über sich ergehen lässt. Niemand kann sagen, was sie mit ihrer Freundin wirklich verbindet. An manchen Tagen hat Klara den Eindruck, dass sie von Zeit zu Zeit viel in Kauf nimmt für ein paar milde Gaben und die Gewissheit, jederzeit eine Stütze zu finden, wenn sie diese brauchen sollte.

„Nicht einmal jetzt hörst du mir richtig zu.“ Martin fasst sich wieder und beobachtet sie genau. Ihm ist aufgefallen, dass ihre Gedanken anderweitig beschäftigt sind.

„Es tut mir Leid, mir ist jetzt gerade etwas sehr Wichtiges klar geworden. Erzähl weiter.“

Sie ist verlegen. Sich selbst Vorwürfe machen, ist eines. Vorwürfe von jemand zu bekom­men, der ihr wichtig ist, erschreckt sie noch immer. Sie bevorzugt es, wenn sie selbst zur Ein­sicht kommt.

„Was ist dir klar geworden?“ Martin ist froh, nicht über sich selbst reden zu müssen.

„Willst du ein Glas Wein?“ Sie versucht abzulenken und ist im Begriff, aufzustehen.

„Nein, ich will, dass du mir jetzt sagst, was dir soeben klar geworden ist!“ Sie setzt sich wieder auf das Bett und sieht Martin abwägend an.

„Mir ist soeben klar geworden, dass wir uns auch in dieser Sache sehr ähnlich sind. Ich meine, so wie du mit deinem Schmerz umgehst. Du wirst so aggressiv, dass es mich kränkt. Ich kann das auch und die Rickie hat das offenbar schon über Jahre mit mir ausgehalten.“ Sie sieht ihn unsicher an. Er senkt den Blick.

„Du hast Recht. Ich bin unerträglich in diesem Zustand.“ Klara richtet sich auf und atmet tief durch.

„Keine Selbstanklagen. Sag mir lieber, was mit dir los ist. Ich kenn diese Seite von dir noch nicht.“ Sie will versöhnlich klingen. Doch Martin treffen ihre Worte wie eine Kritik. Das Tele­fon läutet. Sie steht auf, geht in die Küche und nimmt den Hörer ab. Es ist Rickie.

„Du bist krank? Und warum weiß ich das nicht?“ Klara antwortet sehr leise. Martin kann sie trotzdem hören.

„Ich hab heut Vormittag bei dir im Büro angerufen, und der Walter hat mir schon gesagt, dass da wieder etwas im Busch ist. Bist du nun krank oder simulierst du nur?“

„Ich bin nicht krank, aber ich erzähl dir das ein anderes Mal.“ Rickie weiß, warum sie ausweicht und ihr nicht gleich erklären will, was vorgefallen ist.

„Da steckt sicher wieder der Martin dahinter. Hast du noch immer nicht genug von dem Scheißkerl?!“ Klara weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Eine Rechtfertigung bringt sie in Teufels Küche.

„Hast du Montagabend schon was vor?“ fragt sie schließlich.

„Ja, hab ich!“ Es hört sich abweisend an. „Ich geh mit der Hanna ins Kino. Willst du etwa bis Sonntag mit ihm verbringen?“ Klara seufzt.

„Rickie, bitte, ich bin kein kleines Kind mehr…“ Ehe sie fortsetzen kann, fällt sie ihr ins Wort.

„Oh doch, was den Martin betrifft, bist du noch lange nicht erwachsen. Oder weißt du, was du tust?“

„Aber sicher weiß ich das. Ich hab im Übrigen gerade an dich gedacht. Du musst viel mit mir aushalten. Wenn es mir nicht gut geht, dann lass ich es an dir aus. Das tut mir Leid, Rickie. Aber mach dir keine Sorgen. Uns geht es gut. Wir treffen uns nächste Woche einmal. Dann kann ich dir alles erzählen.“ Mit einem „Baba“ legt sie auf.

„Heißt das, dass alles, was ich dir jetzt sagen werde, du ihr erzählen wirst?“ Sie setzt sich aufs Bett und versucht zu lächeln.

„Was haben Männer immer gegen die Freundinnen ihrer Frau?“

„Ihr Frauen redet zuviel über eure Beziehungen. Ich weiß doch, dass sie dir von mir abrät.“ Sie lacht erheitert.

„Darüber mach dir keine Sorgen. In dem Fall hör ich auf mein Herz, und nicht auf meine Freundin.“ Sie legt sich zu ihm ins Bett und drückt sich an ihn. „Und dann hör ich noch auf etwas anderes…“ Augenblicklich spürt sie, dass Martin für diese Art der Anspielungen derzeit nicht offen ist.

„Willst du jetzt ein Glas Wein oder nicht?“ Er nickt. Sie geht in die Küche. Mit zwei Gläsern, einer Flasche Rotwein der einzigen Bioweinbäuerin in ihrem Dorf und etwas zum Knabbern aus dem Bioladen kommt sie zurück.

„Ich hab Depressionen.“ Sie stellt das Tablett schnell auf dem Nachtkästchen ab und setzt sich neben ihm auf das Bett.

„Um Gottes Willen, Martin! Warum hast du das nicht schon gestern gesagt? Hast du etwas dagegen unternommen?“ Sie streichelt seinen Rücken und seinen Oberarm.

„Hör auf, mich zu bemuttern! Gestern hast du mich noch angeschrieen. Das hat viel besser zu dir gepasst.“ Er löst sich missmutig von ihr und sieht sie ernst an. Klara ist verlegen. Sie lehnt sich zurück und spielt unsicher mit ihren Fingern.

„Ich weiß, ich kann ein Rhinozeros sein.“ Er nickt bejahend.

„Und ob du das kannst.“

Sein Lächeln verrät, wie gut ihm ihre Offenheit tut. Seine Körperhaltung ist noch immer niedergeschlagen. Sie versteht jetzt auch, was ‚Ich kann ohne dich nicht leben’ bedeutet. Er braucht sie als Mensch, nicht als Frau.

Seinen Kopf zwischen ihren Brüsten seufzt er: „Danach hab ich mich in letzter Zeit oft gesehnt. Halt mich fest, Klara!“ Sie drückt ihn an sich. Allmählich spürt sie, wie er sich beruhigt. Der Graben in ihm schließt sich wieder. Er muss nicht länger fürchten, jeden Moment hineinzufallen und im unendlichen Nichts zu verschwinden.

„Ihr Männer liebt den Busen. Da habt ihr die Mutter und die Geliebte auf einmal beieinander.“ Sie sieht auf ihn herab. „Apropos, was war mit Sex? Hast du den nicht auch vermisst?“ Er dreht den Kopf noch immer an ihren Brüsten zu ihr hoch und sagt amüsiert: „Mit dir ficken ist immer wieder erstaunlich.“

Sie zwickt ihn in den Oberarm. „Das, was wir gestern gemacht haben, war nicht ficken! Unsere Körper lieben sich. Das tun sie von Anfang an.“ Sie lächelt vor sich hin.

„Warum verstehen wir uns im Bett so gut?“ Er murmelt es in ihren Leib und genießt den Traum von Geborgenheit und die Schwere, mit der sein Kopf auf ihr ruht. Für sie ist die Antwort einfach.

„Der Körper versteht oft vieles früher als der Verstand. Von unserem Instinkt her haben wir uns von Anfang an geliebt.“

„Hast du zugenommen, Klara? Dein Busen ist viel größer als früher. Und dein Bauch ist auch molliger geworden.“ Sie legt ihren Arm um seinen Hals und meint lachend:

„Ich bin fraulicher geworden, findest du nicht?“ Er hebt den Kopf und denkt daran, wie er sie augenblicklich begehrte, als sie durch die Schwangerschaft mit Simon zum ersten Mal weibliche Formen angenommen hatte.

„Ich hab im Übrigen seit der Geschichte mit der Margarete mit keiner Frau mehr geschlafen.“ Sie will in seinen Augen ergründen, ob er die Wahrheit sagt.

„Das nehm ich dir beim besten Willen nicht ab.“ Er lässt sich wieder auf sie zurücksinken.

„Es müsste dir aber bekannt sein, dass Depressionen nicht unbedingt einem Verlangen nach Sex förderlich sind“, brummt er.

„Und? Was hast du gegen deine Depressionen unternommen?“ Sie denkt: ‚Wahrschein­lich nichts.’ Er richtet sich auf und streift sich mit einer Hand über den Kopf. Langsam löst er sich von ihr und legt sich auf den Rücken.

„Zuerst war ich beim Arzt. Der hat mir Antidepressiva verschrieben. Aber die hab ich nicht vertragen. Nach einer Tablette ist mir speiübel geworden, und ich hab es bleiben lassen.“

„Das war eine gute Reaktion“, lobt Klara. „Psychopharmaka machen nur abhängig und ändern nichts am Problem. Anthony Hopkins sagt in einem Film den Satz: ‚Der Schmerz ist der Meisel Gottes.’ Und Psychopharmaka nehmen dem Bildhauer den Meisel aus der Hand, so dass der Mensch eine amorphe Masse bleibt … eingesperrt im Stein…“

Sein Blick ist gequält.

„Oh je, dich interessieren weder meine Filmzitate noch meine philosophischen Betrach­tungen. Da hast wirklich ein Pech mit mir.“ Martin wundert sich über ihre Einsicht und ihre Leichtigkeit darüber zu sprechen, dass er ihre Vorlieben nicht teilen kann. Sie steht auf und öffnet die Weinflasche, die auf dem Nachtkästchen steht.

„Was hast du dann gemacht?“ Er seufzt erleichtert.

„Der Samuel hat mir geraten, in das Kriseninterventionscenter zu fahren. Und das hab ich dann auch gemacht.“

„Das hätte ich dir gar nicht zugetraut“, wundert sie sich und sieht ihn fragend an. Der abschätzige Blick, mit dem er sie ansieht, gilt der Situation damals.

„Das war vielleicht seltsam.“ Er führt beide Hände zu den Augen und reibt mit den Zeige­fin­gern in runden Bewegungen seine Augen. „Beim ersten Mal war der Therapeut mehr als komisch.“ Er schüttelt noch immer verwirrt darüber den Kopf und seufzt. „Er hat mich so wütend gemacht, dass ich mitten im Satz aufgestanden und einfach hinausgegangen bin.“

Klara schenkt Wein in die beiden Gläser. Sie reicht ihm eines, trinkt einen Schluck daraus und meint:

„Er hat dich vielleicht nur provozieren wollen, um zu sehen, wie viel Lebens­willen du noch in dir hast.“

Martin sieht sie über den Rand seines Glases erstaunt an, nachdem er einen Schluck ge­nom­men hat. „Haben Psychos wirklich so verschrobene Methoden?“

Sie nickt. „Manche schon. Kamilla hat mir erzählt, dass eine Freundin von ihr, die Sigrid, an einen psychologisch geschulten Wüstling geraten ist. Der geht tatsächlich davon aus, dass seelische Grausamkeit heilsam ist. Sigrid hat eine Zeitlang gebraucht, bis sie erkannt hat, dass er nur in ihren alten Wunden herumwühlt. Etwas Verdrängtes ausgraben und behandeln, damit man sich besser kennen und verstehen lernt, ist etwas anderes als alte Wunden aufstochern, nur für den Zweck, damit sie noch einmal wehtun. Das bewirkt in den meisten Fällen eine nochmalige Traumatisierung und ändert gar nichts am Problem. Im Gegenteil.“ Sie dreht ihr Glas am Stiel und nimmt wieder einen Schluck. „Deshalb ist es wichtig, in einer Therapie das Gefühl zu haben, dass dich der Therapeut oder die Therapeutin wirklich mag, das ist die Voraussetzung für eine gute Wellenlänge, sonst bringt eine Therapie gar nichts oder nur eine Erkenntnis darüber, was du nicht brauchst in deinem Leben. Einmal et­was Schlimmes erlebt haben genügt.“ Mit neugierigem Blick fordert sie ihn auf: „Erzähl wei­ter.“

Er seufzt. „Dann bin ich noch einmal hingefahren, weil ich auf der Autobahn an diesem Tag derart ins Pedal getreten bin, dass ich …“

„Um Gottes Willen, Martin.“ Mit aufgerissenen Augen sieht sie ihn an. Noch immer mit erschrockenem Blick stellt sie ihr Glas auf das Nachtkästchen und setzt sich im Schneidersitz ihm gegenüber. „So schlimm hast du dich gefühlt?“ Ihre Reaktion berührt ihn. Die Rüh­rung lässt ihn sein Geständnis fortsetzen.

„Ich hab dann den Simon vor mir gesehen und gedacht, ich muss irgendwie weiterleben.“ Tränen treten in ihre Augen. Er streichelt ihren Arm und erinnert sich an das Bild. „Neben Simon war noch ein Kind. Aber ich kann dir nicht sagen, ob das ein Bub oder ein Mädchen war.“ Sie sieht ihn kurz an und sagt ihm nicht, dass derlei Bilder immer unscharf sind. Grobe Umrisse hinterlassen nur eine ungefähre Ahnung.

„Ich war richtig froh, dass dieser komische Therapeut nicht da war, sondern ein anderer Typ. Der war sehr angenehm. Ich hab an diesem Abend schon einmal geheult, bevor ich zu dir gekommen bin.“ Er sieht sie abwägend an und fürchtet, sie lacht ihn aus.Als sie ihn ernst und ermutigend anblickt, setzt er fort.

„Er hat mich gefragt, ob es irgendjemanden gibt, mit dem ich reden kann. Da ist mir niemand eingefallen. Das war furchtbar. Kannst du dir das vorstellen? Da erst hab ich verstanden, warum es mir so dreckig geht. Ich hab niemandem, mit dem ich reden kann.“ Sie nickt. Wieder hebt er seufzend eine Hand und lässt sie resigniert in den Schoß fallen. Nach einem Schluck aus dem Weinglas meint er: „Oder mit der ich reden kann. Du bist mir nicht sofort eingefallen, weil ich mir gedacht hab, du willst mich sowieso nicht mehr sehen. Und in diesem Zustand schon gar nicht.“ Er sieht sie verunsichert an. „Und bei Samuel hab ich immer das Gefühl gehabt, dass ich ihm nur zur Last fall.“ ‚Oder dass er mich auslacht’, fügt er in Gedanken an.

Klara fällt auf, dass Martin sie vollkommen falsch einschätzt. ‚Wie Samuel wahrscheinlich auch.’

Sie holt sich ein Glas Wasser von der Abwasch und kehrt damit an den Tisch zurück. Sein Blick irritiert sie.

„Klara, lach mich nicht aus, wenn ich dir das sag.“ Er nimmt eine Zigarette aus seiner Packung. Bevor er sie anzündet, meint er: „Aber wir sind uns mehr ähnlich, als wir beide das wahr­haben wollen.“ Sie entspannt sich und geht lächelnd auf ihn zu.

„Und da hast du so lange gebraucht, das herauszufinden?“

Im ersten Moment ist er gekränkt über ihre abschätzige Bemerkung. Doch dann lächelt er sie ebenfalls an. Mit einem Mal ist er wie verändert. Er lässt sich auf die Eckbank zurückfallen und legt erst den Handrücken, dann die Handinnenseite auf seine Stirn.

„Was ist? Du bist auf einmal so verändert. Hast du irgendwas?“ Sie ist verunsichert – und besorgt.

„Klara, ich muss dir was sagen.“ Er sieht wieder aus dem Fenster. Die Winterlandschaft im Hof ist durch die Dunkelheit nicht zu sehen. „Ich habe dir noch nicht erzählt, warum ich ges­tern zu dir gekommen bin.“ Klara ist neugierig und beugt sich auf ihre Arme gestützt ihm ent­ge­gen.

„Schau mich nicht so an!“ Ihr direkter Blick macht es ihm unmöglich, mit ihr zu reden. Martin hört sich an wie Simon. Sie starrt aus dem Fenster. Durch die Dunkelheit kann sie lediglich ihr Spiegelbild darin wahrnehmen. ‚Vielleicht sollte ich Musik auflegen.’

„Was willst du hören. Ich hab Lust auf die Vier Jahreszeiten.“ Sie steht auf und geht in ihr Zimmer. Martin starrt noch immer aus dem Fenster und sagt kein Wort.

„Hab ich etwas Falsches gesagt?“

„Hast du nicht etwas Fröhliches?“

„Aber sicher! Mozart ist immer gut.“

Er hat keine Lust auf Klassik. Am liebsten würde er jetzt Deep Purple oder Rolling Stones hören. ‚Aber das will sie sicher nicht.’

„Mhm“, er klingt enttäuscht. Sie geht zu ihrer Anlage und legt eine CD ein. Ein Klavier­konzert. Es ist nicht seine Lieblingsmusik. Doch die aufmunternden Klänge schenken ihm etwas Er­leichterung.

„Ich weiß, dass du lieber was anderes hören willst. Aber tut mir Leid, ich hab keine Lust auf Rock. Nicht jetzt jedenfalls.“

„Du kannst gut Gedanken lesen, aber…“ Er unterbricht sich und sieht sie vorsichtig an.

„Aber was?“ fragt sie neckisch. Ein langer Blick, der ihr seine Antwort bereits verrät.

„Aber das ist unheimlich und wirkt außerdem besserwisserisch.“ Sie senkt betroffen den Blick.

„Kann ich was dafür?“ Sie seufzt. „Es ist nur eine Begabung, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin damit auf die Welt gekommen.“ Er sieht sie erstaunt an. Danach zu fragen, was das zu bedeuten hat, interessiert ihn nicht. Es ihm zu erklären, sie ebenso we­nig.

„Was ist jetzt, erzählst du mir endlich, warum du gestern gekommen bist, oder soll ich ra­ten?“ fragt sie, während sie sich neben ihm niederlässt. Sie bekommt plötzlich Angst, in ihr altes Muster zurückzufallen. Immer wieder hat sie ihn unnötig mit ihrem Wissen über ihn geärgert. In ihrem Schrecken darüber hält sie den Atem an. Sie hört ihn mit Erleichterung sagen:

„Dräng mich nicht so!“ Es ist weder vorwurfsvoll noch unsanft. Eine einfache Bitte in seiner for­dern­den Art. Sie sitzen eine Zeitlang wortlos nebeneinander. ‚Mozart muss ein wunder­ba­rer Mensch gewesen sein. Er hat so wundervolle Musik „gehört“ und sie niederge­schrie­ben, damit sie auch andere hören können.’ Als Martin sie fragt, ob sie etwas mit anderen Männern gehabt hat, verdirbt er ihr damit die Stimmung. Sie hat nicht damit gerechnet und antwortet nicht gleich.

„Warum willst du das denn wissen?“ Eine Gegenfrage spart Zeit. Sie hat keine Lust, mit ihm über andere Männer in ihrem Bett zu reden.

„Ich will es einfach wissen.“ Klara ärgert sich. ‚Kaum kommen wir einander wieder näher, fragt er mich etwas Unangenehmes und stößt mich wieder weg.’

„Ja“, sagt sie schließlich, ohne darüber nachzudenken.

„Wie viele?“ Sie hebt erstaunt den Kopf.

„Was soll die Frage?! Willst du mich ärgern und alles wieder kaputtmachen, was seit kurzem wieder besser ist?“ Ihre Worte sind scharf und ab­wei­send. Martin sieht sie eindringlich an.

„Ich muss es wissen. Mit wie vielen hast du es getrieben?“ Bevor sie den Ärger darüber in ihr aufsteigen lässt, antwortet sie schnell:

„Das kann ich dir nicht sagen. Ich hab sie nicht gezählt.“ Das ist eine Lüge. „Du kannst dich doch sicher auch nicht erinnern, wie viele es waren. Also warum willst du es von mir wissen?“ Sie hält seinem harten Blick stand.

„Martin hör auf damit! Wir haben es doch so angenehm. Willst du das alles wieder verderben?“ wiederholt sie. Dieses Mal bittend. „Du bist ja sogar eifersüchtig auf den Walter“, schmollt sie.

Er sieht sie überrascht an. „Was heißt sogar? Du kannst mir doch nicht weismachen, dass du ihn nicht ernst nimmst.“

Sie richtet sich auf und atmet wieder tief durch.

„Sogar heißt nur, dass er für mich wie ein Bruder ist. Sex mit ihm kann ich mir einfach nicht vorstellen, verstehst du? Aber das hab ich dir schon einmal erklärt.“ Sie starren eine Zeitlang schweigend vor sich hin.

„Also, sag jetzt endlich, wie viele?“ Sie sieht ihn wieder ärgerlich an.

„Sagst du mir dann auch, wie viele es waren?“ ‚Für ihn stimmt es wahrscheinlich, dass er irgendwann aufgehört hat, sie zu zählen. Oder gar nie damit angefangen hat.’

„Wir reden jetzt nicht über meine, sondern über deine Abenteuer! Wenn wir wieder zusam­men­kommen wollen, muss ich das wissen, verstehst du?!“ Er legt sich von Zeit zu Zeit den autoritären Ton eines großen Bruders zu, der seiner kleinen dummen Schwester vor Augen hält, wie unklug und ungeschickt es ist, seine Anweisungen nicht zu befolgen.

„Also gut, vier. Nein drei. Einer zählt nicht.“ Es hat gewirkt. Ihre Antwort hört sich an wie die eines elfjährigen Mädchens. Unschuldig blickt sie zu ihm hoch und senkt sofort wieder ver­schämt den Blick.

Verwundert fragt er, was das zu bedeuten habe. Sie antwortet leichthin, einer sei impotent gewesen. „Ich habe ihn mitten in der Nacht unbekleidet rausgeworfen. Kleidung und Schuhe hinterher.“ Er musste sich frierend im Stiegenhaus anziehen.

Sie schüttelt ihr mädchenhaftes Verhalten wieder ab und holt tief Luft.

„Klara!“ Der Vorwurf in seiner Stimme ist deutlich hörbar. Kopfschüttelnd meint er, sie sei offenbar anderen Männern gegenüber ebenso hart und unerbittlich wie mit ihm.

„Das ist nicht hart, das ist nur richtig! Was glaubst du denn, wie eine Frau sich fühlt, wenn sie mit einem Mann im Bett ist, der nicht kann?“ Er antwortet nicht und richtet den Blick an ihr vorbei auf die Küchenschränke. „So wie wir erzogen worden sind, glauben wir natürlich als erstes, es hat etwas mit uns zutun.“ Sie steht auf und holt sich eine Zigarettenpackung aus dem Schrank. Während sie die Packung öffnet, sieht sie ihn unwirsch an.

„Ich bin einmal an eine frigide Frau geraten und hab mir auch eingeredet, dass es etwas mit mir zutun hat.“ Sie nickt und zündet sich eine Zigarette an.

„Und wie waren die anderen?“

Die Packung auf den Tisch werfend, stützt sie die Hände aufgebracht in ihr Becken.

„Was soll das? Hast du denn noch immer nicht genug gehört?“

„Du hast mich auch gefragt, wie es mit der Katharina im Bett war.“ Seine Augen funkeln sie unnach­giebig an.

„Aber du hast doch so viele gehabt und ich weiß auch nicht …“

„Keine Ausflüchte, Klara. Wie war’s?“ ‚Warum will er das wissen?’ fragt sie sich, als sie sich mit einer Hand durch ihr Haar fährt.

„Was willst du denn von mir hören?“ fragt sie ihn noch immer aufgebracht und wirft die Arme in die Höhe.

„Möglichst die Wahrheit.“ Er tut ungerührt und dreht an seinem Glas. Sie seufzt, streicht sich über ihre Stirn und wirft einen verwirrten Blick auf die Tischplatte.

„Mit einem war’s fast so gut wie mit dir. Er war deine Meisterklasse in Verführung. Aber der Rest war so und so.“ Sie neigt dabei den Kopf nach links und dann nach rechts und hört sich nicht begeistert an. ‚Eigentlich hätte ich mir die beiden anderen sparen können.’ Gelegenheit macht Liebe. Sie hat einige Gelegenheiten nicht wahrgenommen und es im Nach­hinein bedauert.

„Es tut mir Leid.“ Er beugt sich zu ihr, um ihre Hand zu küssen. ‚Wahrscheinlich für das Kompliment, das ich ihm gemacht hab’.’ Das Bett ist für sie beide jener Bereich, in dem es ausnahmsweise von ihrer Seite keine Vorwürfe gibt.

„Ich hab gestern das erste Mal gespürt, dass du mir gehörst.“

Seit ihren Worten „weil ich in der Zeit mit keinem anderen Mann geschlafen hab“, weiß er, dass auch sie mit anderen Männern schläft. Damals, als sie Stunden auf ihn in seinem Haus gewartet hat. Er meint wenn er mehr darüber wisse, könne er seine Eifersucht besänftigen. Eine bizarre Hoffnung. Und eine fadenscheinige Ausrede obendrein. Seit sie ein Paar sind, betrachtet er sie als seinen Besitz. ‚Du gehörst mir, Klara.’ Diese Worte flattern noch immer in ihrem Hinterkopf wie ein eingesperrter Vogel im Käfig. Sie sieht ihn entgeistert an und entzieht ihm ruckartig ihre Hand. Mit verschränkten Armen setzt sie sich aufrecht hin.

„Hier gehört niemand irgendjemanden. Dass das klar ist! Was soll denn das, Martin? Bis gestern hab ich noch geglaubt, dass unsere Beziehung endgültig vorbei ist und heute sagst du so was!“ Sie beugt sich bei ihren Worten ihm entgegen und sieht ihn eindringlich an. Mit Entsetzen bemerkt sie, dass sie wieder wütend wird. Mit verschränkten Armen atmet sie tief durch. ‚Nur nicht wieder herzlos werden!’ ermahnt sie sich selbst und holt beide Beine auf den Stuhl, stellt die Füße auf die Sitzfläche und verschränkt ihre Arme um ihre Beine geschlungen.

Martin erschrickt. Nicht über das, was er gesagt, sondern wie sie darauf reagiert hat. Dann lächelt er und hält ihr eine Hand entgegen. Sie reagiert nicht. Er legt seine Hand auf ihr Knie. Sie will es wegziehen, überlegt es sich anders, als sie ihn direkt ansieht.

„Ich hab mir gedacht, es freut dich, wenn ich dir das …“

„Was soll mich denn daran freuen? Kannst du mir das bitte erklären? Deine Eifersucht begründet sich lediglich darauf, dass du mich als deinen Besitz ansiehst! Aber das bin ich nicht. Ich gehöre nur mir selbst …!“ ‚…und der Großen Mutter’ fügt sie in Gedanken an. „Verstehst du das?“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schlägt sie mit der Hand zu einer Faust geballt auf den Tisch.

Er wird ärgerlich. Wieder hat sie ihn unterbrochen. Ehe er seinem Ärger Luft macht, hält er ver­wirrt inne.

„Du machst mich ganz schön verlegen. Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll.“ Ihr sehen Simons Augen entgegen, wenn er ihr etwas Peinliches beichtet.

„Ich meine, …“ Schüchtern weicht er ihrem Blick aus und streichelt über den Tisch gebeugt ihr Knie. ‚Ich hab’ ihn noch nie derart verlegen erlebt.’ Dann sieht er sie an und sagt schnell: „Als wir gestern miteinander geschlafen haben, hab ich eine Zeitlang nicht mehr gewusst, ob ich ich oder du ich oder ich du bin.“ Es dauert eine Weile, bis Klara versteht, was er ihr damit sagen will. Ihr Lachen hört sich beinahe hysterisch an. Als sie sich endlich fasst, sagt sie:

„Das ist wieder einmal typisch Mann, Martin. Du hast dich das erste Mal eins mit mir gefühlt und schon denkst du, dass ich dir gehör.“ Sie lacht noch immer. Es ist besser, darüber zu lachen, als sich zu ärgern. Er schlingt seinen Arm um sie und zieht sie zu sich auf die Bank. Als sie sich an ihn drückt, beginnt er ebenfalls zu lachen. Wenn auch etwas zögerlich.

Er ist verletzlich geworden. Zum ersten Mal hat er sich auf sie eingelassen. Sie kann seine Angst spüren. Sie beide haben einander sehr wehgetan. Doch auch immer wieder die Kraft ge­fun­den, einander zu verzeihen. Die Gedanken daran beruhigen sie. Sie kann ihre Verteidi­gungs­haltung aufgeben. Ihr Körper beginnt sich zu entspannen.

„Gestern“, er wendet sich ihr zu, „als du für mich die Zigarette angezündet hast…“

Er unterbricht sich und streicht ihre Haare aus seinem Gesicht.

„Ja, was war da?“ fragt sie den Kopf hebend.

„Das war so vertraut. Du warst plötzlich so vertraut. Wir haben das zuletzt vor dem Vorfall auf der Herrengasse gemacht. Und ich hab immer gespürt, dass es etwas bedeutet. Oder nimmst du von irgendjemanden eine angezündete Zigarette entgegen?“ Sie lächelt, sagt aber nicht, dass sie mit Rickie dasselbe tut.

„Ja, das ist eine vertraute Geste. Ich soll das gestern gemacht haben?“ Es wundert sie. Sie kann sich nicht daran erinnern. Eine unbewusste Geste der Hingabe.

„Willst du mir nicht endlich erzählen, warum du gestern Abend gekommen bist?“ fragt sie nach einer Weile.

Er seufzt und lehnt sich zurück. „Ich kann nicht“, stöhnt er. Seine Worte hören sich mit einem Mal an, als würde ein Nebel zwischen ihnen liegen. Wieder Schweigen. Sie wartet geduldig und streichelt ihm über den Rücken.

„Lass das! Ich will jetzt nicht, dass du zärtlich bist zu mir!“ Klara sieht ihn verstört an und steht von der Bank auf, um sich wieder auf einen Stuhl zu setzen.

„Schön langsam halt ich dieses ständige Auf und Ab nicht mehr aus!“ Sie beobachtet ihn mit unzufriedenem Gesichtsausdruck.

Er sieht sie lange an.

„Du wirkst irgendwie besorgt und gleichzeitig ärgerlich“, stellt er fest.

„Ich werd’ auch ärgerlich, wenn …“ Sie unterbricht sich. Er steht auf und geht mit den Händen am Becken umher. Wie er es immer tut, wenn ihn etwas beun­ru­higt.

„Ich kann nicht reden, wenn du mir so nahe bist.“ Dann geht er in ihr Zimmer. Sie weiß nicht, ob sie ihm folgen soll. Inzwischen geht ihr Mozart auf die Nerven. Sie steht auf und schaltet das Radio an. Die letzten Takte von „One day, I’ll fly away“ von Cindy Crawford. ‚Das werde ich auch eines Tages tun.’ Als das Lied zu Ende ist, schaltet sie wieder ab.

„Und wie hat sie dich in der Hand gehabt?“

„Ich will nicht darüber reden!“ Er dämpft ärgerlich seine Zigarette im Aschenbecher aus.

„Ich hab das Gefühl, dass da noch etwas dahinter steckt, was dir noch nicht ganz klar ist.“ Sie ist wieder in ihrem Element. Worauf sie hinaus will, weiß sie noch nicht. Wie immer folgt sie ihrer Intuition, die sie an ein Ziel bringen wird. Er sieht sie ungläubig den Kopf schüttelnd an.

„Hab ich dir vorhin nicht klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich von dir nicht wie einer deiner Klienten behandelt werden will?“ Sie ignoriert die Frage und den ärgerlichen Blick geflissentlich.

„Katharina war also eine Kollegin von dir, und sie wollte unbedingt, dass dein jetziger Chef Abteilungsleiter wird. Hast du dich schon einmal gefragt, warum sie das gewollt hat?“

„Was spielt das denn für eine Rolle? Wahrscheinlich hat sie etwas gegen mich gehabt.“ Er denkt darüber nach. „Das kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber kann man schon hinter die Ku­­lis­­sen schauen?“ Sie nickt bejahend. „Natürlich, du schon. Aber wir Normalsterblichen nicht.“ Er streicht ihr verspielt über die Wange.

„Das ist sogar meine Lieblingsbeschäftigung“, flüstert sie mit einem neckischen Augenzwinkern. Bei genauer Erin­nerung fühlt er einen Klumpen in der Magengrube. Ein Konglomerat aus Anspannung und Erobe­rungs­geplänkel.

„Vielleicht war sie nur deshalb für mich sexuell anziehend, weil sie nichts von mir gewollt hat.“ Klara klatscht in die Hände. Auf eine Antwort dieser Art hat sie gewartet. Je unnahbarer Frauen sind, umso interessanter und attraktiver wirken sie auf Männer, die die Eroberung lieben. „Cary Grant sagt zur kühlen Katherine Hepburn in ‚Philadelphia Story’: ‚Es ist etwas Verteufeltes mit dieser Unnahbarkeit. Sie ist viel herausfordernder als die mehr handgreiflichen Reize von Frauen. Wir Männer sind eben eitel. Die Zitadelle kann und wird erobert werden! Und ich bin der Mann dazu!’“

„Ach du und deine Filmzitate.“ Er wirft seine Arme in die Höhe und verschränkt sie dann vor sich. Der Einwand kann sie nicht davon abbringen, her­aus­finden zu wollen, was in dieser Geschichte im Verborgenen liegt.

„Vielleicht gefällt dir mein Filmzitat deshalb nicht, weil es dir dein Verhältnis zu Katharina oder besser gesagt ihres zu dir so klar vor Augen führt.“ Die hochgezogenen Augenbrauen und der bestätigende Zeigefinger auf der Tischplatte erinnern ihn unangenehm an das hohe Ross, auf dem sie gerne sitzt. Genervt dreht er sich zur Seite und sieht aus dem Fenster.

Klara spürt, dass sie Martin in einer Art zur Einsicht drängt, wie sie es bei ihrer Arbeit als Lebensberaterin nie tun würde. Sie kommt sich ungeschickt und aufdringlich vor. Trotzdem will sie den Hintergründen in der Sache mit Katharina auf den Grund gehen.

„Was haben sie denn gegen dich verwendet?“

„Ach, es war nichts Aufregendes.“ Er macht eine abfällige Handbe­we­gung. „Nur sehr dubios.“ Er sieht sie an und setzt fort: „Wenn ich es dir nicht endlich sag, gibst du keine Ruhe, stimmt’s? Da bist du wie ein kleines Kind.“ Sie überhört seinen Vorwurf. Er hasst ihre Hartnäckigkeit. Doch er kann sie auch sehr schätzen, wenn sie ihn mit ihrem Drängen schließlich dazu veranlasst, einen vermeintlich unauflösbaren Kno­ten aufzulösen. Seufzend die Arme vor sich verschränkt entschließt er sich, für sie etwas Licht in die Angelegenheit zu bringen.

„Eines Tages ist mir ein Akt abhanden gekommen.“

„Und dann?“ fragt sie, nachdem er nicht weiter spricht.

„Nichts dann. Ich hab eine Aktennotiz gemacht, die bezeugt, dass der Akt abhanden gekommen ist. Nach ein paar Tagen ist er wieder auf­ge­taucht.“ Er kramt eine Zigarette aus der Packung und zündet sie an.

„Nur hat ein Blatt gefehlt“, meint er nebenbei. Er sieht sie eine Zeitlang an und versucht ihr auf diese Art verständlich zu machen, dass er nicht länger darüber reden will.

„Wenn du mir nicht alles erzählen willst, warum machst du mich dann erst neugierig?“ Er senkt nachdenklich den Kopf.

„Was für ein Blatt?“ Sie seufzt auffällig und verschränkt nun ebenfalls die Arme vor sich. „Martin, bitte! Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“

Es fehlte das Blatt, auf dem bestätigt wird, dass die Förderung auf das Konto des Förderwer­bers überwiesen worden ist.

„Und was bedeutet das?“ Sie kennt sich nicht aus. „Und um welchen Betrag ist es gegan­gen?“

„Es waren ein paar hunderttausend Schilling*“, erwidert er leichthin. Dabei macht er eine ab­fällige Bewegung mit einer Hand, ehe er sie wieder unter seinen Ellenbogen gleiten lässt.

Die Kaffeemaschine gibt ein Geräusch von sich. Klara holt die Kanne und zwei Tassen. Die Milch steht noch immer auf dem Tisch. Sie hat vergessen, sie nach dem Frühstück in den Kühlschrank zu geben.

„Es hat ausgesehen, als ob ich das Geld selber eingestreift hätte“, meint er betont unbe­tei­ligt. Wieder weicht er ihrem Blick aus. Sie starrt ihn eindringlich an. Zuviel Kaffee in der Tas­se. Sie kümmert sich nicht darum.

„Und hast du?“ fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Bist du verrückt, Klara? Traust du mir denn das wirklich zu?“ Er schlägt wütend mit der fla­chen Hand auf den Tisch. ‚Dient der Zorn dazu, die Scham zu verdecken? Er weicht beharr­lich meinem Blick aus.’ Als sie einen Lappen holt, um den Kaffee vom Tisch zu wischen, fragt sie:

„Und welche Konsequenzen hat das gehabt?“ Sie ist versunken in ihre Tätigkeit, den Tisch wieder sauber zu machen und den unteren Rand der Tasse trocken zu wischen. Er wirft ihr einen Blick zu, der angewidert auf sie wirkt. Wieder weiß sie nicht, ob es ihr gilt, oder dem, was danach passiert ist.

„Ein Disziplinarverfahren natürlich. Was denn sonst?“ Sie hält inne, sieht ihn mit großen Augen an und lässt sich auf den Stuhl fallen. ‚Warum hat er mir das nicht erzählt?’

„Und damit hab ich den Posten vergessen können.“ Er schüttelt bei der Erinnerung daran den Kopf.

„Aber ich hab’ zum Glück die Aktennotiz gemacht. In der Zeit, als der Akt ver­schwunden war, hat jemand das Blatt herausgenommen. Auch wenn ich das nicht beweisen kann, so kann man mir umgekehrt nicht beweisen, dass ich die Summe auf mein eigenes Konto überwie­sen habe. Das haben sie mir vorgeworfen.“ Er sieht sie unsicher an.

„Was war mit dem Geld passiert? Ist es denn nicht beim Förderwerber ange­kom­men?“ Er schüttelt verneinend den Kopf.

„Ich hab’s überwiesen. Aber das Konto hat es nicht gegeben“, ‚nicht mehr gegeben’ fügt er in Gedanken an. Die einzige Erklärung für ihn war, dass jemand das Konto sofort nach Empfang der Förderung geräumt und gekündigt hat. Doch darüber erhielt er bei der Bank keine Auskunft.

„Sie haben doch sicher dein Konto auch überprüft. Hast du damit nicht deine Unschuld beweisen können?“

„Klara du müsstest doch wissen, wenn ich tatsächlich das Geld für mich auf die Seite schaffen hätte wollen, hätte ich es sicher nicht auf mein Gehaltskonto überwiesen. Dafür gibt es anonyme Konten in der Schweiz und in Liechtenstein.“

„Warum hast du mir bis heute nichts davon erzählt?“ Sie denkt mit zusammen gezogener Stirn darüber nach. Hätte er ihr davon erzählt, wäre er nicht umhin gekommen, ihr aus­führlicher über sein Verhältnis mit Katharina zu berichten. Das wollte er damals nicht. Unbeteiligtes Kopfschütteln, zusammengepresste Lippen.

„Wann war das Disziplinarverfahren?“ Er überlegt.

„Damals, als du dir das mit dem zweiten Kind eingebildet hast.“ Schuldgefühle machen sich breit.

„Dann hast du es damals aber knüppeldick von beiden Seiten bekommen, du Armer.“ Sie streichelt seine Wange, dann seinen Oberarm. Er wehrt sie ab und dreht sich abweisend zur Seite.

„Ich hab immer das Gefühl gehabt, dass du nie für mich da bist, wenn ich dich einmal brauch“, schmollt er. Dann erinnert er sich und lenkt ein. „Außer gestern.“

„Martin, ich hab dir damals hoffentlich gezeigt, wie Leid es mir getan hat. Und es tut mir auch heute noch Leid.“ Den Blick an ihn gewandt wartet sie auf ein vergebendes Zeichen. Keine Reaktion. „Aber manchmal denk ich, dass ich damals so bös auf dich war und dich dafür bestrafen wollt, weil du mich dauernd betrogen hast…“

„Komm, Klara! Fang jetzt nicht wieder davon an.“ Er weist sie schroff zurück. Sie schüttelt den Kopf.

„Will ich auch nicht. Lass mich zu Ende reden.“ Ein entschuldigendes Lächeln huscht über sein Gesicht.

„Ich hab mich damals auch selber bestraft. Du hast zwar sicher mitbekommen, dass es mir miserabel gegangen ist, wie ich damals bis nach Mitternacht bei dir war und auf dich gewartet hab. Aber du weißt nicht, wie furchtbar es mir die Monate nach der Fehlgeburt gegangen ist.“ Er sieht sie kurz an und dann auf die Uhr.

„Du warst mir damals zu nah. Ich hab unbedingt einen Abstand zu dir gebraucht, weil ich deine Nähe nicht mehr ausgehalten hab.“ Er erinnert sich mit Unbehagen an sein Klammern in der Zeit, ehe sie ihn verlassen hat. Im Nachhinein ist ihm unbegreiflich, je in dem Glauben gelebt zu haben, ohne sie nicht leben zu können. Und doch… Er will nicht länger an den Tisch mit zwei Beinen denken.

„Ist es nicht Zeit, den Simon abzuholen?“ Sie will nicht, dass er jetzt geht.

„Ich ruf den Walter an und frag ihn, ob er ihn abholt und ins Büro mitnimmt.“ Sie streift sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Martin sieht sie erstaunt an.

„Hast du nicht gesagt, dass ihr zurzeit viel zutun habt? Wie kannst du denn dann von Walter verlangen, dass er auch noch den Simon abholt und am Nachmittag im Büro auf ihn aufpasst?“ Er sieht sie fragend an. „Ich bin offenbar nicht der einzige, von dem du zuviel verlangst?“ Sie macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Der Walter mag den Simon. Er holt ihn oft ab, wenn ich dienstlich unterwegs bin oder sonst wie zutun habe. Simon spielt dann bei uns im Büro. Oder er macht seine Hausübung.“ Martin spürt wieder das unbehagliche Gefühl der Eifersucht.

„Ihr seid ja eine richtig nette Familie“, sagt er bissig.

„Martin, sei jetzt nicht gehässig! Es ist für uns alle einfacher, wenn Simon am Nachmittag bei Walter im Büro ist.“

Er seufzt. „Ich muss jetzt aber aufhören, mit dir über so tiefe Dinge zu reden. Ich brauch eine Pause.“

„Hab ich so etwas wie eine Bitte gehört?“ Sie lächelt ihn an.

„Am liebsten würd ich jetzt alleine spazieren gehen. Ich muss mir über ein paar Dinge klar werden, und…“

Sie sieht ihn fragend an. „Und was?“

„Klara, sei mir bitte nicht bös. Ich brauch jetzt einen Abstand.“ Sie überlegt nicht lange.

„Ist gut Martin. Dann kann ich ja selbst den Simon abholen und einen Sprung im Büro vorbei schauen. Das wird den Walter sicher freuen.“ Ihr tut es Leid. Ihre Art, intensive Gespräche zu führen, ist nicht seine Sache. Doch sie ist einsichtig.

„Wir haben heute schon viel Zeit unterhalb der Meeresoberfläche verbracht und brauchen beide Zeit zum Luft Holen.“ Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als er aufsteht.

„Dass du mir nicht verloren gehst.“ Sie strahlt ihn an und schlingt ihre Arme um seinen Hals.

„Keine Angst. Ich fahr nur ins Grüne.“

„Hört sich gut an.“ Sie umarmt ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

Halb zog sie ihn, halb fiel er hin und ward nicht mehr gesehen.

„Klara, bitte!“ ‚Ich muss jetzt standhaft bleiben!“ seufzt er in Gedanken.

Er geht in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Als er dabei die Tür schließt, wird Klara bewusst, dass er bereits jetzt etwas Abstand haben will. Sie geht ins Bad und nimmt sich endlich die Zeit um zu duschen.

„Hast du was zu lesen für mich?“ fragt er sie, als sie aus dem Bad zurückkommt. Sie gibt ihm einen Coelho. „Der wird dir gefallen.“ Wie kann sie da so sicher sein? Er ist ein Autor wie Woody Allen ein Filmemacher: Entweder Begeisterung oder Ablehnung. Es gibt kein Dazwi­schen.

***

Am Abend, nachdem Simon zu Bett gegangen ist, setzen sie ihre Aussprache fort.

„Der Coelho hat mir gut gefallen. Hast du noch einen? Ich hab das Buch am Nachmittag ausgelesen.“ Es tat ihm gut, in dem Buch zu verschwinden.

„Sicher. Ich hab fast alle.“

„Eine Stelle hat mir besonders gut gefallen. Der Tag der Vergebung. Dort geht es nicht nur um die Sünden der Menschen, sondern auch um jene, die Gott gegen uns Menschen begangen hat: Du hast meine Gebete nicht erhört, ich habe mehr als nötig gelitten und so weiter und so fort. Das Ritual schließt mit den Worten: ‚Ich war ungerecht gegen dich und du warst ungerecht gegen mich. Doch heute ist der Tag der Vergebung, du wirst meine Sünden vergessen und ich werde deine verges­sen und wir können ein weiteres Jahr zusammen sein.’ Das passt doch haargenau zu unserer momentanen Situation, findest du nicht?“ Es erinnert ihn auch an die vergangenen schmerzhaften Monate. Er hat für sein Empfinden unnö­tig viel gelitten. Unwillig schüttelt er die Gedanken daran ab. Sie stellt ihm eine unangenehme Frage.

„Bevor wir einander vergeben, sollten wir noch einmal alles durch besprechen, einverstanden?“ Er nickt zustimmend. Sie holt tief Luft.

„Warum hast du ein Techtelmechtel mit der Margarete gehabt?“ Ein flatteriges Gefühl im Bauch verrät ihr, dass ihr nicht wohl bei dieser Frage ist. Er wartet darauf, dass sie seinen Blick erwidert. Nach einer Weile sieht sie ihn mit kauenden Lippen unsicher an.

„Ich hab nie verstanden, warum du ausgerechnet wegen der mit mir Schluss gemacht hast. Die kann dir doch nicht das Wasser reichen! Klara, du hast damals völlig überreagiert. Du hättest das doch als einen schlechten Scherz abtun können.“

„Als einen schlechten Scherz? Martin, du spinnst!“ Sie richtet sich erbost auf und verschränkt wütend ihre Arme vor sich.

„Die Margarete hat schon immer besser sein wollen als ich. Sie hat mir in der Schule das Leben zur Hölle gemacht. Und als wir fünfzehn waren, hat sie den Fabian umgarnt, der in mich verliebt war. Bis er sein Interesse an mir wieder verloren hat. Und dann spannt sie mir auch noch dich aus!“ Sie schlägt mit beiden Handrücken auf den Tisch und starrt ihn aufgebracht an. „Außerdem hab ich dich damals das erste Mal mit einer anderen Frau zusammen gesehen!“ ‚Abgesehen von meinen inneren Bildern’, fügt sie in Gedanken an.

„Klara, das tut mir Leid. Das hab ich nicht gewusst…“

„Es ist egal, ob du davon gewusst hast oder nicht! Irgendwann hat damit Schluss sein müs­sen. Und es war ausgerechnet mit der Margarete, die ich von Kind auf nicht ausstehen hab können.“ Nach einer Weile fasst sie sich wieder. Martin sagt kein Wort. „Vielleicht war es auch gut so. Sonst hätt’ ich mich noch länger zur Närrin gemacht.“


*) rd. 30.000,- Euro

„Ich hab immer versucht, die Leute glauben zu machen, dass ich alleine zu Recht komm. Aber das stimmt nicht!“ Klara liegt mit ihrem Kopf an seiner Schulter und holt Luft um etwas zu sagen. Unterlässt es in dem Augenblick, als sie spürt, dass er noch etwas hinzufügen will. „Du warst für mich in letzter Zeit so unerreichbar. Du brauchst mich nicht.“ Er drückt ihre Hand und seufzt. „Du weißt, was du willst und kommst mit mei­nen Vorstellungen nicht zu Recht.“

„Und was sind deine Vorstellungen?“

Er löst sich von ihr und lehnt sich mit einem Stoßseufzer zurück an die Eckbank. Wie sei­ne Vorstellungen ausgesehen haben, ehe er am vergangenen Abend zu ihr ge­kom­men ist, interessiert ihn nun nicht mehr. Er fährt sich mit einer Hand über seinen kurz geschorenen Kopf.

„Es hat keinen Sinn, heute darüber zu reden, was ich noch gestern haben wollte, wenn ich heute nicht mehr dasselbe will.“ Sie muss eine Zeitlang über seine Worte nachdenken und kaut gedankenverloren an ihrer Unterlippe. „Du hast dich ganz anders entwickelt als ich. Und ich bin davon überzeugt, dass wir deshalb so große Schwie­rigkeiten miteinander gehabt haben.“

Klara nickt. „Ich habe mich aber schon am Anfang unserer Beziehung immer wieder gefragt, was du eigentlich an mir findest. Wir haben doch damals nicht wirklich zueinander gepasst, obwohl…“ Sie hält inne und erinnert sich mit einem Lächeln daran, dass sie sich von Anfang an im Bett sehr gut verstanden haben. Sie sieht ihn fragend an. Er lächelt mit traurigen Augen.

„Klara, du weißt anscheinend nicht, wie du auf andere wirkst. Wie du auf mich wirkst.“ Er sieht sie zärtlich an.

„Und was ist das?“ fragt sie neugierig. Es hat Klara schon immer interessiert, warum er mit ihr zusammen ist. Soweit bei seinen und ihren Freiheitsansprüchen von Zusammensein die Rede sein kann.

Die vergangenen Monate haben sich tief in ihr eingegraben. Sie scheint die Zeit zu verges­sen, als sie beide auch außerhalb des Bettrandes ganz gut miteinander ausge­kommen sind. Er sieht sie an und erwidert ihr Lächeln.

„Du siehst Dinge an mir, die ich nicht sehen will. Du bringst mich auf Gedanken, die ich nicht denken will, und trotzdem kann ich nicht anders. Und irgendwann muss ich zugeben, dass du Recht gehabt hast, dass ich mich damit auseinandersetzen muss.“ Er hält inne.

Er sagt ihr nicht, wie faszinierend ihre Augen von Anfang an auf ihn gewirkt haben. ‚Vielleicht hat sie mich ja wirklich verhext. Wer weiß?’ Er erzählt ihr auch nicht, dass er seine Mutter dafür schätzt, weil sie wie Klara ständig herausfordernd ist und von ihm verlangt, alles zu geben. All seine Kraft, die ihm zur Verfügung steht. Es liegt an seinem Charakter, Herausforderungen zu lieben.

Hingegen gibt es keinen Anlass, ihr zu erklären, warum es mit ihm gut ausgegangen ist. Doch sie hört seine Gedanken.

„Ich war oft unerbittlich mit meinen Forderungen und Erwartungen. Die wenigsten Männer wollen sich mit sich selbst auseinandersetzen, unangenehme Seiten von sich selbst beleuchten oder von einer Frau beleuchten lassen. Wer will schon mit einer ‚Emanze’ zu­sam­men sein?“ Sie lächelt viel sagend. „Ich weiß, dass ich von deinen Freunden so genannt werde.“

„Abgesehen von Samuel“, antwortet er schnell und verbirgt seine Überraschung über ihre Selbsteinschätzung. In sei­nem früheren Freundeskreis hat sie als Frau nicht das geringste Interesse hervorgerufen. Sie war niemals Anlass für Wachsamkeit, einer seiner Freunde könne sie ihm ausspannen. Es lag nicht daran, dass sie als Frau zuwenig attraktiv wäre. Seine Freunde haben ihn meist bedauert, wenn sie ihn dazu gezwungen hat, dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun. Eines Tages fragte ihn Lukas, was er denn an der findet. „Das ist doch eine Schreckschraube!“

Warum sie beide das Glück haben, trotz ihrer Gegensätzlichkeiten einander zu lieben, kann er ihr nicht erklären. Er war lange Zeit sehr unzufrieden mit seinem Leben. In dieser Zeit musste er sich damit auseinandersetzen, was sie ihm vorwarf. Befriedigt stellt er fest, dass es das wohlige Gefühl, das er nun in ihrer Nähe empfindet, wert war.

„Du weißt, dass die einzige Frau, die dir je gefährlich werden hätte können, Katharina war.“ Sie blickt ihn erschrocken an. „Damals hab ich mich wirklich von dir trennen wollen.“ Er bestätigt ihre seinerzeitige Angst. „Obwohl ich dir nicht den Grund gesagt hab’, hast du gewusst, dass eine andere Frau dahinter steckt. Das war gruselig.“ Der Schauer fühlt sich nun nicht mehr bedrohlich an. Er streicht sich über den kurz geschorenen Kopf, als wolle er den tröstlichen Gedanken gleichzeitig empfinden.

‚Katharina hat sie also geheißen, die ihn hinters Licht geführt hat.’ Augenblicklich ruft sie sich ins Gedächtnis, unter welcher Sternenkonstellation sie in Martins Leben getreten war. ‚Da­mals, vor mehr als vier Jahren hat Simon seinen ersten Asthma-Anfall gehabt’, erinnert sie sich. Es schneit wieder. Dieses Mal stimmt die Ruhe im Hof mit der im Raum überein. Es hat wieder zu schneien begonnen.

„Da fällt mir ein, dass ich dir noch gar nicht erzählt hab, was für ein hinterhältiges Aas die war.“ Bei den Gedanken an sie und was sie getan hat, spürt er seit langem wieder Wut hoch­kommen.

„Nein, was?“ Klara tut, als hätte sie keine Ahnung. Obwohl sie zu wissen glaubt, was er ihr nun erzählen wird.

„Sie hat im Amt gegen mich intrigiert.“ Er schüttelt mit widerwilligem Gesicht den Kopf. „Des­halb hab ich dann den Abteilungsleiter nicht bekommen.“ Nun ist sie doch überrascht.

„Das hab ich nicht gewusst.“ ‚Es war nur vorauszusehen gewesen, dass sie ihm nicht gewogen ist.’ Wie ein Reiter am Horizont taucht die Erinnerung daran wieder auf. ‚Diese Frau wird seine beruf­lichen Pläne durchkreuzen.’ Sinnierend über Martins Horoskop flog ihr damals dieser Gedanke zu.

„Ich hab dich gar nicht mehr danach gefragt, was aus deinen Karriereplänen geworden ist. Das tut mir Leid. Warum hast du denn den Posten nicht bekommen?“ Sie ist wirklich neugierig. Er aber hat das Gefühl, sie spiele ihm ihr Interesse nur vor.

„Warum hätte ich dir das auch erzählen sollen, wo du mir an den Kopf geworfen hast, dass dich weder die Millionen, die ich zu verwalten habe, noch meine Karriere interessiert.“ Er sieht sie von der Seite mit zusammengekniffenen Augen an. Sie setzt sich auf.

„Wir zwei haben es in den letzten Jahren tunlichst vermieden, über Berufliches zu reden, weil das ga­ran­tiert ein Thema ist, an dem wir uns in die Haare geraten. Und unsere privaten Probleme waren eh immer nicht einfach. Wenn wir einmal gut ausgekommen sind, hätten wir uns damit nur sinnlos pro­vo­ziert.“ Er seufzt. „Du hast Recht, damals hab ich dich sehr gekränkt“, kommt sie auf seine Worte zurück und senkt schuldbewusst den Blick. „Meine Worte sind kastrierend gewesen, hat Kamilla gemeint.“ Er nickt bestätigend. Sie löst sich von ihm und setzt sich auf einen Stuhl.

„Die Katharina war nur mit mir im Bett und hat verliebt getan, damit sie etwas gegen mich in der Hand hat. Und ich hab ihr in meiner Blödheit dieses Etwas anvertraut.“ Wieder seufzt er ärgerlich und setzt unwirsch fort: „Sie ist dann schnurstracks zu meinem Konkurrenten gelaufen und hat es ihm brühwarm erzählt. Kannst du dir das vorstellen?“ Er ärgert sich noch immer über seine eigene Naivität.

„Dabei spielt das jetzt überhaupt keine Rolle mehr. Mittlerweile bin ich froh, dass alles gekommen ist wie es gekommen ist.“ Mit diesen Worten beruhigt er sich selbst.

„Natürlich kann ich mir das vorstellen. Wahrscheinlich war sie mit deinem Konkurrenten auch im Bett.“ Martin ist erstaunt über Klaras Reaktion. Er war verstört, als er erfuhr, dass sein Mitbewerber um die Stelle des Abteilungsleiters überhaupt etwas über eine bestimmte Sache wusste. Die er nur von Katha­rina wissen konnte.

‚Dass sie auch mit dem Herbert geschlafen haben könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Klara hat wie immer eine zu lebhafte Phantasie.’ Mit zusammengepressten Lippen schüttelt er verneinend den Kopf.

„Woher willst du denn das schon wieder wissen?“ wehrt er den Gedanken ab. „Sag jetzt nicht, du hast das in den Sternen gesehen oder in den Karten!“ Eines Nachmittags sah er ein paar aufgeschlagene Karten auf ihrem Tisch liegen. Er fragte unbedacht, was sie bedeuten. Dabei wollte er es gar nicht wissen. Ihm schauderte beim bloßen Anblick der schrecklichen Bilder.

„Die Abgründe der menschlichen Seele sind mir nicht fremd, Martin. Du magst zwar nicht, dass ich mich mit diesen Dingen beschäftige, aber mich interessiert immer, was da­hinter liegt. Und dabei helfen mir diese Symbole.“ Als er nichts erwi­dert, setzt sie fort.

„Wie war’s mit ihr im Bett?“ Sie begreift nicht sofort, dass sie sich damit zu weit vorwagt.

„Klara, das geht dich wirklich nichts an.“ Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, sieht sie zu­erst ärgerlich an und dann beleidigt aus dem Fenster. Es irritiert sie keineswegs.

„Martin, es interessiert mich nicht als Frau, sondern…“

„Sondern als was? Als Hexe?“ Er ist noch immer aufgebracht über ihr hartnäckiges Drängen.

„Wenn du so willst, dann eben als Hexe.“ Sie kräuselt schmollend ihre Lippen. „Ich nehme an, nicht besonders“, mutmaßt sie vorsichtig. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Katharina deinem inneren Frauenbild entsprochen hat. Deshalb hat sie nicht zu dir gepasst. Derlei Dinge sind immer am besten im Bett festzustellen. Mit Worten und Gefühlen kann sie dir viel vormachen. Aber Körper können nicht lügen.“Er richtet sich auf und lehnt sich mit verschränkten Armen trotzig zurück.

„Klara, du bist wirklich furchtbar! Wie stellst du dir denn vor, dass es ein Mann mit dir aus­hält?“ Die Frage erschreckt sie.

„Was hab ich denn schon gesagt?“ Irritiert sieht sie ihn an. Er antwortet nicht. Mit der Zeit fasst sie sich wie­der. Ihr wird klar, was er nicht versteht.

„Martin, betrachte mich jetzt nicht als deine Frau. Mich interessiert das ganz unab­hängig davon, was wir zwei für ein Verhältnis miteinander haben. Verstehst du mich?“ Er versteht gar nicht. Ihr Gespräch über ihr Therapeutengehabe fällt ihm wieder ein.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht will, dass du mich wie einen Klienten behan­delst, der sich bei dir einen Rat über die Sterne einholt!“ Er schnaubt unwillig.

Wie sich das anhört! Einen Rat über die Sterne! Willst du mich ärgern?“ Es kränkt sie so sehr, dass sie zum Gegenangriff übergeht und sich wie eine Amazone auf ihn stürzt.

„Wenn du mich damals um einen Rat gebeten hättest, was natürlich vollkommen aus­geschlossen ist, – sie hält beide Hände abwehrend von sich – dann hätt ich dir ge­sagt, dass diese Frau nichts Gutes mit dir im Schilde führt und du wärst vor­gewarnt gewesen.“ Jetzt hört sie sich trotzig an. Ihre Worte „was natürlich ausge­schlos­sen ist“ klingen herablassend. Sie streicht, während sie redet, mit der Innen­fläche der Hände wiederholt über die Tisch­platte, ohne diese zu berühren.

„Aber du hast mir ja gesagt, dass sie von Anfang an nicht die Wahrheit gesagt hat. Nur, liebe Klara, was sollte ich denn damit anfangen? Ich habe mir gedacht, sie hätte es lediglich mit mir nicht ernst gemeint.“ Er breitet seine Handflächen vor ihr aus.

„Lieber Martin, das liegt nur an deinem egozentrischen Weltbild. Mach nicht mich dafür verantwortlich! Ich hab von Anfang an gewusst, dass mehr dahinter steckt, und dass sie dabei war, dir beruflich in die Quere zu kommen. Aber wie sollte ich dir das denn klarma­chen, wo du bei jedem Wort von mir explodiert bist?“ Sie fuchtelt erbost darüber mit ihren Armen.

Klara hatte damals in seinem Wagen, als er sie nach Simons ersten Asthmaanfall vom Kran­ken­­haus nach Hause brachte, ständig das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Das ist für sie immer ein Grund, nicht alles zu sagen, was sie sagen will. Oder kann.

„Ich will mit deinen Hexenkünsten nichts zutun haben! Wann kapierst du das denn endlich?“ Er funkelt sie an.

„Warum behandelst du mich immer so lieblos, wenn es um etwas geht, das für mich ganz alltäglich ist?“ Sie überschlägt ihr Bein von ihm abgewandt und starrt beleidigt auf die alte Kredenz. Sie schweigen eingehend darüber. Das Telefon läutet. Sie steht auf, nachdem sie Martin eine Weile fordernd angesehen hat, und hebt ab. Er hört, wie sie sich entschuldigt.

„Was ist denn los, Klara? Warum kannst du denn heute nichts ins Büro kommen?“ Sie meint, sie würde es ihm ein an­de­res Mal erklären und entschuldigt sich noch einmal.

„Klara, wir ersticken in Arbeit!“ Sie seufzt.

„Manche Dinge sind eben wichtiger als die Arbeit. Das siehst du doch ein, oder?“

Walter schnaubt. „Du weißt, wir haben einen Abgabetermin. Wenn wir nicht fertig sind, be­kom­men wir das Geld nicht!“ Er spricht mit Nachdruck. Ohne Erfolg. Sie hat nicht vor, ins Büro zu kommen.

„Ist gut, Walter. Ich verspreche dir, dass ich alles, was ich die zwei Tage gemacht hätte, nächste Woche erledigen werde.“ Mit einem „Mach’s gut, Walter“, legt sie auf.

Martin erinnert sich daran, dass Walter einmal meinte, tatsächlich wäre Klara seine Che­fin. ‚Die Art, wie sie eben mit ihm geredet hat, hört sich danach an.’

Verwaltungen wie die Landesregierung sind streng hierarchisch organisiert. In einer Teamarbeit gibt es hingegen kein Oben und kein Unten, sondern nur ein Miteinander. Er hat den Wunsch, eines Tages selbständig zu arbeiten, damit er sich keinen Vorschriften von oben mehr zu fügen braucht.

„Aber vielleicht wärst du ja ganz gut als neue Hillary Clinton, wenn du wollen würdest, dass ich Kanzler werd“, meint er schmunzelnd, als sie sich wieder zu ihm setzt. ‚Warum scherzt er jetzt wieder mit mir? Sei’s drum!’ denkt sie. ‚Hauptsache, er wirft mir nicht länger vor, dass es kein Mann mit mir aushalten kann.’ Sie lacht und drückt ihm zur Versöhnung einen Kuss auf die Wange.

„Martin, du hast offenbar keine Ahnung, wie wenig ich von männlichen Macht­ver­häl­tnissen halt.“ Sie lächelt ihn an, während sie sich in ihren Stuhl fallen lässt. „Das ist gerade so, als hätte Gandhi Präsident von Indien werden wollen.“ Er schnaubt.

„Klara, du übertreibst! Du und Gandhi. Da liegen doch Welten dazwischen!“

„Es gibt Menschen, die im Stillen groß sind, deren Namen kennt niemand. Vor allem von uns Frauen nicht.“

„Klara, sei nicht kindisch. Was tust du denn schon, um die Welt zu retten?“

„Ich stehe wie andere an meinem Platz und erfülle meine Auf­gabe, erwidert sie unbestimmt. Aber ihr Männer bastelt ständig an neuen Hierarchieebenen, damit ihr noch weiter und noch weiter nach oben kommt, damit die einen, die ganz oben ankommen, berühmt werden.“ Sie bewegt mit drehenden Handbewegungen ihre Arme über ihren Kopf. „Aber damit entfernt ihr euch immer weiter von eurem ursprünglichen Ziel und verliert den Boden zur Realität.“ Sie legt ihre Hände auf die Tischplatte. „Die Menschen in der Politik meinen noch immer, es muss große, allgemeingültige Lösungen geben und dabei schaffen sie damit immer noch mehr Probleme. Und ich weiß auch warum.“ Sie sieht ihn an, er erwidert ihren Blick nicht.

„Schau dir doch uns zwei an. Wir kommen wie viele andere nicht einmal mit unserer Beziehung und auch nicht mit unseren Familien zu Recht, wie soll das in einem Staatengebilde möglich sein, das darauf beruht, dass alles mögliche in Gremien beschlossen wird? Wer meinst du, hat dort das Sagen? Meine Erfahrung ist es, dass in solchen Gremien nicht die Klugen gehört werden, sondern die Aufdringlichen, die die sich in den Mittelpunkt spielen wollen. Die, die Recht haben wollen nur um des Rechthaben willens, die, die Macht haben wollen und sich herzlich wenig um die Anliegen der anderen Menschen kümmern…“ Sie legt in ihren Schoß und redet weiter. Ungehört.

Er ärgert sich, dass er mit einem politischen Thema begonnen hat. „Ich hätte doch wissen müssen, dass du jetzt wieder von etwas zu reden anfängst, was mich nicht im Geringsten interessiert“, unterbricht er ihren Redefluss. Unwillig schüttelt er den Kopf und nimmt eine Zigarette. Er zündet sie gelang­weilt an und stößt den Rauch gegen das Fenster aus.

„Ich will, dass du meine Sicht der Dinge verstehst.“ Sie hält inne, um die Worte sorg­sam zu wäh­­len. „Mich interessieren die Menschen und nicht ihre beruflichen Erfolge, Menschen, die wissen, dass der Himmel hoch und der Zar weit weg ist. Aber es gibt viele, die meinen, unbedingt an den Zarenhof kommen zu müs­sen, weil sich offenbar nur dort die Dinge verändern lassen und sie nur dort etwas bewirken können. Und dann öffnen sie ihre blauen, schwarzen, roten und grünen Fenster, und sehen einfach nicht, dass sie nur am Zarenhof sind, und sich das wirkliche Leben ganz woanders abspielt.“

Als sie Martins ernster Miene gewahr wird, hält sie augen­blicklich inne. „Du bist nicht meiner Meinung?“ fragt sie, um sein misstrauisches Schweigen zu beenden. Er seufzt und sieht sie lange an.

„Klara, bist du wirklich so naiv? Du hast offenbar keine Ahnung wie wenig die Leute mit eige­ner Verantwortung umgehen können. Du kannst dir sicher nicht vorstellen, was ich alles er­lebt hab, wie die Verwaltung mit ihren Kontrollen ausgetrickst wird, rein zum eigenen Vorteil. Und als Umweltbewegte müsstest du doch wissen, dass es Vorschriften braucht, weil die meisten von sich aus einfach nicht darauf achten, welchen Dreck ihre Produktion hinterlässt. Betriebe werden mit öffentlichen Geldern errichtet, weil wir ja Arbeitsplätze schaffen müssen. Aber sobald keine Förderungen mehr fließen, wird die Halle geschlossen. Die Wirtschaft hat das Motto: Hinter uns die Sintflut. Um das einzudämmen braucht es Leute auf dem Zarenhof, die von oben dem ganzen einen Einhalt bieten können. Mehr als Schadensbegrenzung ist das eh nicht…“

Fasziniert von seinen Einsichten hört sie ihm zu. Seine Worte bewegen sich im Hinter­grund und spülen eine Woge der Freude in ihr Herz. ‚Wie sehr er sich ver­ändert hat.’ Trotzdem glaubt sie nicht an eine Verbesserung der allgemeinen Lage von oben. Darüber mit ihm zu diskutieren, interessiert sie mit einem Mal nicht mehr.

„Willst du noch Kaffee?“ Er nickt bejahend.

„Er ist ein prächtiger Bub.“ Klara fasst es als Kompliment auf und lächelt. Sie bemerkt nicht, dass auch er stolz ist auf seinen Sohn.

„Danke, wir verstehen uns sehr gut.“ Sie strahlt ihn an und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse.

„Aber was hat er auf einmal gegen mich? Wir sind doch früher immer gut mit­ein­ander ausge­kommen.“ Martin schüttelt mit nachdenklicher Miene den Kopf. Sie seufzt, ehe sie antwortet.

„Das in der Herrengasse damals ist ihm sehr nahe gegangen. Er hat, kaum dass wir in den Zug eingestiegen sind, einen Asthma-Anfall gehabt.“

Der erstaunte Blick lässt ein Schuldbewusstsein erkennen. „Das tut mir Leid.“ Nach erneu­tem Kopfschütteln, das dieses Mal ihm selbst gilt, gesteht er ihr: „Ich weiß nicht, was damals in mich gefahren ist.“

„Der Teufel wahrscheinlich“, antwortet Klara trocken und denkt an die Tarot-Karte. Sie bedeutet eine besondere Herausforderung für die Liebe.

„Da hast du sicher Recht.“ Er lächelt sie verlegen an.

„Hmh, Klara, ich muss dich um etwas bitten.“ ‚Nur nicht mehr an damals denken!’ Denn die Erinnerung an seinen Fehltritt hat ihm die vergangenen Monate sein Leben zur Hölle ge­macht. Sie hört ihm aufmerksam zu und starrt dabei auf ihren leeren Teller. „Ich würde gerne Pflegeurlaub nehmen.“ Ihre Überraschung ist nicht zu übersehen.

„Warum meldest du dich nicht krank?“ fragt sie, während sie anfängt, das Geschirr abzuräumen. Als sie nach seinem Teller greift, umfasst er ihr Hand­gelenk. Er sieht sie bittend und zugleich fordernd an.

„Warum hab ich immer das Gefühl, wenn du mich um etwas bittest, es ist dein gutes Recht, es auch zu bekommen?“ Er lächelt wortlos. Anstatt sich zu ärgern, denkt sie daran, etwas von ihm zu lernen.

Die Berührung dringt über ihren Arm, den Rücken und die Beine bis in ihre Füße. Sie kippt nach hinten und lässt sich in den Stuhl fallen. Im letzten Moment kann sie das Geschirr in ihren Händen im Gleichgewicht halten. Ein Messer fällt klirrend auf den Fliesenboden. Sie stellt die Teller hastig auf dem Tisch ab.

„Ich will, dass du dich krank meldest, damit ich einmal Pflegeurlaub nehmen kann.“

„Das ist eine eigensinnige Feststellung und nicht wirklich eine Erklärung.“ Er sieht ihr unge­rührt in die Augen. Sie versteht augenblicklich, was es ihm bedeutet.

„Na gut, wenn du willst.“ ‚Warum lenke ich immer so schnell ein? Ich hätte doch sicher noch etwas für mich herausschlagen können, so wie er das immer macht.’ Mit diesen Grü­beleien steht sie auf und setzt ihre Arbeit mit einem Seufzer fort.

„Ich brauch dafür aber eine Bestätigung von deinem Arzt, dass du krank bist.“ Er greift nach seiner Packung Zigaretten, überlegt einen Augenblick und reibt sich auf den Ellbogen aufgestützt die Hände.

„Das ist kein Problem“, meint sie kurz an ihn gewandt.

Plötzlich begreift sie, warum sie derart schnell bereit war, ihm nachzugeben. ‚Es bedeutet, dass wir noch einen ganzen Tag miteinander verbringen werden. Es ist Donnerstag. Ich kann mir auch noch den Freitag frei nehmen und vier gemeinsamen Tagen entgegensehen. Wir müssen endlich über alles reden.’

Er steht auf und wählt die Nummer der Sekretärin. Wie erwartet ist sie sehr über­rascht.

„Ich ruf dann auch gleich Doktor Gregorich an und melde mich krank. Und den Walter muss ich auch noch anrufen.“ ‚Es wird schwierig werden, ihn davon zu über­zeugen.’ Sie seufzt.

„Was ist?“ fragt er. Er hat sich wieder hingesetzt und sieht ihr zu, wie sie die Tassen und Teller in den Geschirrspüler räumt.

„Ach nichts, ich hab nur gerade daran gedacht, dass Walter nicht gerade erfreut darüber sein wird, weil wir wieder einmal sehr viel Arbeit haben im Büro.“ ‚Soll ich ihm sagen, dass wir da­bei sind, ein Projekt abzuschließen?’ Sie unterlässt es. Als sie mit ihrer Arbeit fertig ist, be­merkt sie wie nebenbei: „Das bedeutet, dass du Simon zur Schule bringen musst.“ Martin rückt unruhig auf der Essbank hin und her.

„Wird er das denn wollen?“ In diesem Moment kommt Simon fertig angezogen mit seiner Schultasche in der Hand in die Küche.

„Was heißt das? Warum bringst du mich nicht zur Schule, so wie immer?“ Er sieht Klara verstört an.

„Mir ist heute nicht gut. Ich werde zu Hause bleiben, und der Martin wird dich zur Schu­le bringen“, lügt sie mit seelenruhigem Blick. ‚Hoffentlich gewöhnt er sich das nicht auch an.’ Der Gedanke verrät ein schlechtes Gewissen.

Die Schultasche schlägt hart auf dem Boden auf. „Nein, ich will das nicht!“ schreit Simon zornig. Sie erschrickt. Simons Verhalten ist bei genauerer Betrachtung nicht verwunderlich. Er ist Klaras und Martins Kind. Beide neigen zu Ausbrüchen, wenn etwas Unerwartetes auf sie zukommt.

„Da ist doch nichts dabei. Was macht es denn für einen Unterschied, wenn der Martin dich hinbringt?“

„Nein, ich will das nicht!“ ‚Martin wird sicher behaup­ten, dass er seine Sturheit von mir hat. Und ich bin davon überzeugt, dass Sturheit ein eindeutiges Wesensmerkmal von seinem Vater ist.’ Andererseits beweist Simon damit, dass er ein entschiedenes Nein äußern kann, wenn er will. Er hört sich dieses Mal nicht weinerlich an. In seinen Augen funkelt verwirrte Unruhe.

„Lass uns überlegen, was wir in diesem Fall tun können“, versucht sie einzulenken. Es wäre an und für sich nichts dabei, ihn selbst zur Schule zu begleiten. Walter wird sie anvertrauen, dass sie nicht wirklich krank ist. ‚Aber es wäre mir lieber, wenn Martin Simon zur Schule bringt. Wenn er schon unbedingt Pflegeurlaub nehmen will.’

„Nein, ich geh nicht mit dem Martin in die Schule! Dann fragen sie mich sicher, wer das ist…“ Er schweigt verlegen und wird rot. ‚Schämt er sich am Ende, den anderen Kindern erklären zu müssen, dass Martin sein Vater ist?’ Klara hält beunruhigt inne und sieht ihn betroffen an.

Martin hindert nun nichts mehr daran, sich eine Zigarette anzuzünden. Mit einem feuchten Lappen den Tisch reinigend, überlegt sie, was sie tun können.

„Ich kann die Rickie anrufen und fragen, ob sie dich zur Schule bringt.“ Simon ist einverstan­den. Klara lässt es lange läuten. „Rickie ist leider nicht mehr zu Hause“, sagt sie, ehe sie den Hörer wieder in die Gabel legt. ‚Sie ist wahrscheinlich bei Hanna. Von dort ist es zu weit, um sie zu bitten, Simon in die Schule zu bringen. Noch dazu, wo es dafür keinen Anlass gibt.’

„Das einzige, was mir jetzt noch einfällt, ist ein Taxi rufen, das dich zur Schule bringt.“ Walter kann sie ebenfalls nicht darum bitten. Er wohnt zu weit weg. Wieder erinnert sie sich daran, ihn später anzurufen. Simon lässt sich enttäuscht auf das Sofa fallen. Er ist verwirrt.

„Aber warum denn? Du kannst mich doch hinbringen.“

Martin nimmt einen Zug von seiner Zigarette und stößt den Rauch in Richtung Fenster aus. Er ist verletzt.

„In der Stadt sind die Straßen geräumt, da könnte ich sicher fahren. Fährst du lieber mit dem Taxi als mit mir mit dem Auto zur Schule?“ Es gibt nichts mehr zu verlieren.

„Ja, das tu ich.“ Die Härte der ehrlichen Worte trifft ihn. Bemüht, zu verbergen, wie sehr ihn diese Antwort kränkt, meint er:

„Dann rufen wir dir jetzt ein Taxi, setzen dich hinein, und es bringt dich zur Schule.“

Simon fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken. Es ist ihm dennoch lieber. Klara holt das Telefonbuch und wählt eine Nummer.

„Also, mach dich fertig! Das Taxi ist gleich da.“ Klara ist nicht zufrieden mit der Lösung. ‚Simon hat noch immer seinen Willen mir gegenüber durchgesetzt. Es ist eines jener Zei­chen, dass ihm sein Vater fehlt. Martin würde nicht so einsichtig mit seinem Wollen umge­hen. Er kann ihn sicher dazu bringen, auch Lösungen zu akzep­tieren, die nicht immer seinen Vorstellungen entsprechen.’ Andererseits erinnert sie sein Verhalten an Martin selbst. ‚Ich kann es drehen und wenden wie ich es will.’ Sie sieht ein, dass es keinen Sinn hat, sich über die Motive Gedanken zu machen. ‚Ich muss damit leben.’

Als Klara von der Straße zurückkommt, sitzt Martin noch immer an seinem Platz.

„Warum lässt du ihm denn solche Flausen durchgehen?“ Er hört sich verärgert an. Sie verräumt die Lebensmittel im Kühlschrank und überlegt, wie sie ihm erklären kann, was eben passiert ist.

„Ich weiß es nicht“, hört sich an wie eine Rechtfertigung und wird von einem Schulterheben begleitet.

„Er kann doch nicht immer nur seinen Willen haben! Du musst ihm doch deutlich machen kön­nen, was geht und was nicht.“ Seine Worte unterstreichend hebt und senkt er seine fla­che Hand vor sich auf dem Tisch.

Klara fällt ein Marmeladeglas aus der Hand. Es zerspringt klirrend auf dem Fliesen­boden. Ein Teil der zähflüssigen, selbst gemachten Marmelade spritzt auf ihren Mor­gen­mantel. Wortlos holt sie den Abfalleimer und ein befeuchtetes Tuch, mit dem sie die Bescherung auf­wischen will. Er springt auf und meint: „Komm, lass das! Ich mach es.“ Sie steht da und sieht ihm zu, wie er die Scherben in den Müllkübel wirft und alles feinsäuberlich zusammenwischt.

„Dein Mantel ist auch schmutzig“, sagt er und sieht mit hochgezogenen Augen­brauen fragend zu ihr hoch.

„Ach, lass nur, das wird mit Gallseife schon wieder rausgehen.“ ‚Und wenn nicht, dann wird mich mein Morgenmantel immer an diesen Vorfall erinnern.’

„Du fehlst Simon. Aber weder du noch er will das einsehen.“ Er steht nickend auf, schlingt seine Arme um ihren Hals und drückt sie an sich.

Sie legt den Telefonhörer auf und geht zum Tisch.

„Am Freitag­nachmittag hol ich dir die Bestätigung von meinem Hausarzt.“ Sie lässt sich im rechten Winkel zu Martin auf einem Stuhl nieder. „Heute und morgen Mittag musst du den Simon von der Schule abholen.“ Sie stellt es einfach fest. ‚Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass ich selbst ihn abhole. Außer­dem kann ich Walter oder Rickie darum bitten.’ Ihre Arbeitsstellen liegen nicht allzu weit ent­fernt von der Schule.

„Ich muss einen Weg finden, wie ich mit ihm zu Recht komm. Er ist sauer auf mich, das hat er mich bei meinen Besuchen immer wieder spüren lassen. Irgendwie hab ich aber auch das Gefühl, dass er eifersüchtig auf mich ist.“ Er lächelt darüber.

Simon spürt, dass das Verhältnis seiner Eltern dabei ist, sich zu verändern. Instinktiv muss er wissen, dass dies eine Veränderung in der Beziehung zu seiner Mutter wie auch zu seinem Vater zur Folge hat.

„Aber es wird mir schon etwas einfallen.“ Er legt beruhigend seine Hand auf die ihre und streichelt sie.

„Er ist genauso stur wie du. Ich hab mich oft gefragt, ob so etwas erblich ist, oder er einfach mitbekommt, wie du bist.“ Er erwidert ihren Blick.

„Du bist aber auch stur. Vielleicht hat er es ja von dir.“ Sie flirten miteinan­der.

„Ich bin nicht stur, ich weiß nur manchmal, was ich will! Aber das kommt eh nur sel­ten vor.“ Sie denkt an ihre Weigerung, zu ihm zu ziehen.

„Damals hab ich dir erklärt, warum mir das nicht möglich ist. Du kannst das nicht als Sturheit abtun.“ Er nickt, als habe er verstanden.

Vor ein paar Wochen hätten die beiden nicht derart unbeschwert miteinander reden können. Es fühlt sich gut an. Unbefangen und ohne Angst, verletzt zu werden. Nach all dem, was zwi­schen ihnen vorge­fal­len ist. Mit Unbehagen erinnert sie sich an Margarete und das katastrophale Gespräch im Sommer. Die Erinne­rung hinterlässt einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Unwillkürlich muss sie schlucken.

„Warum bist du plötzlich so verändert?“ Er sieht sie fragend an.

„Bin ich das?“

Sie lächelt ihn an. „Kommst du dir nicht selber verändert vor?“

„Ich hab mich die letzten Monate sehr einsam gefühlt.“

Das Bild von der geborstenen Staumauer taucht vor ihrem geistigen Auge auf. Es verdeckt ihre Gewissensbisse wegen der groben Vorhaltungen im Sommer.

„Genauso, wie du es mir vorausgesagt hast.“

‚Bedeutet das, er hat mir verziehen?’ Die Last der Selbstanklage fühlt sich mit einem Mal leichter an. Sie streicht ihm mit der Hand über eine Wange. Beide Arme um ihn schlingend, gleitet sie zu ihm auf die Bank. Dann vergräbt sie ihr Gesicht in seinem Hals.

„Martin, ich war die erste Zeit so wütend auf dich. So wütend, dass ich dich am lieb­sten geschlagen hätte.“ Sie setzt sich auf und schlägt ihm spielerisch auf das Brust­bein. Er sieht sie überrascht an und meint:

„Das hättest du tun sollen! Es wäre mir weit lieber gewesen, als dein eisernes Schwei­gen und deine eisige Kälte.“ Er hält kurz inne. „Aber wenn ich es recht bedenke: Du hast mich ge­schla­gen. Damals im Sommer. Mit deinen Worten.“ Sie legt ihren Kopf wieder auf seine Schul­ter und nickt schuldbewusst.

„Es tut mir Leid Martin. Damals bin ich zu weit gegangen…“

„Du weißt genau, dass ich ihn immer noch lieb hab. Was soll ich denn machen? So tun, als ob er mir egal wäre?“ Klara sieht sie mit verwirrten Augen an. Dahinter verbirgt sie ihren Ärger. „Er ist mir aber nicht egal.“ Sie schlägt mit einer Handkante auf den Tisch und hört sich trot­zig an. ‚Wieso muss ich mich denn dauernd vor ihr rechtfertigen?’ überlegt sie bitter. Rickie schüttelt irritiert den Kopf und fixiert ihr Feuerzeug, das sie vor sich auf dem Tisch hin und her dreht.

„Du hast einmal zu mir gesagt, wenn ich glaube, du machst einen Blödsinn, soll ich dir das zu verstehen geben. Du würdest mir auch nicht böse sein, weil du schon einmal einen Riesen Blödsinn gemacht hast, wo dich eine Freundin sehenden Auges in dein Unglück hat hineinrennen lassen.“ Klara seufzt unwillig.

„Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick, mich daran zu erinnern.“

***

Er sitzt auf der Eckbank in der Küche und sieht aus dem Fenster. Im Hof liegt Schnee an diesem Novembermorgen. Zuviel Schnee für seine Sommer­reifen. Jedenfalls kommt ihm dieser Vorwand gelegen.

In den frühen Morgenstunden, ehe er aus dem Fenster gesehen und den Schnee bemerkt hat, überlegte er, dass er gerne länger bei Klara bleiben würde. Wenn er sich einen Urlaubstag nimmt, wird sein Chef ihn deshalb wieder rügen. Das hält ihn grundsätzlich nicht davon ab, es zu tun. Er schüttelt den Kopf. Weder will er sich frei nehmen, noch ist er geneigt, im Büro anzu­ru­fen und sich krank zu melden.

Klara schläft, während er in der Küche sitzt und eine Zigarette raucht. Nach einiger Zeit fällt ihm ein, dass er als Vater Pflegeurlaub beanspruchen kann, wenn die Mutter des Kindes krank ist. ‚Die Sekretärin wird sich wundern. Das ist bei mir noch nie vorgekommen. Und Simon ist fast acht.’ Er sieht auf die Uhr. Fünf vor sieben. Er hat noch Zeit, sich zu überlegen, wie er Klara davon überzeugen kann. Er braucht die Krankmeldung ihres Arztes.

Die Tür zum Vorzimmer geht auf und Simon stapft zielstrebig auf die Schlafzim­mertür seiner Mutter zu. Martin wartet neugierig, was passieren würde, wenn er ihn entdeckt. Doch sein Sohn geht durch die Küche, ohne sich umzusehen.

„Mama, aufstehen. Es ist sieben.“ Er hört, wie Klara etwas murmelt. Martin fühlt sich ausge­schlossen von einem vertrauten Morgenritual. Zum ersten Mal denkt er daran, wie gerne er dazu gehören würde. ‚Warum haben wir noch nie zusammen gelebt? Weil unsere Beziehung ein ständiges Auf und Ab war?’ Er erinnert sich mit ungläubigem Kopf­schütteln an Katharina. ‚Wohin hab ich mich damals nur verrannt? Und warum hab ich so lange nicht bemerkt, dass sie im Amt gegen mich intrigiert hat? Sie hat so harmlos auf mich gewirkt. Ich versteh das nicht.’ Dabei schüt­telt er unablässig den Kopf. ‚Klara, die Hexe, hat damals angedeutet, dass sie mir von An­fang an nicht die Wahrheit gesagt hat. Und das ist noch untertrieben.’ Er seufzt. ‚Katharina ist eine infame Intrigantin.’ Gegen Hinterhältigkeit ist niemand gefeit.

‚Das Téte-á-téte mit Margarete war nicht mehr als ein Schuss ins eigene Knie. Wie lästig die dann war. Die hat wirklich geglaubt, ich will eine Beziehung mit ihr anfangen.’ Wieder ein verwirrtes Kopfschütteln. ‚Und was war damals mit Klara los, als sie sich ein Kind von einem anderen Mann eingebildet hat?’ Während er sich daran erinnert, wie sehr sie ihn damals verletzt hat, hört er Schritte aus dem Zimmer auf sich zukommen. Klara erscheint mit Simon in der Tür. Sie hält beide Hände auf seinen Schul­tern, wie um ihn zu beschützen. ‚Oder will sie ihn ermahnen, damit er kein falsches Wort sagt?’ Martin hat nicht gehört, was die beiden miteinander besprochen haben.

Simon will nicht mit seinem Vater gemeinsam frühstücken. Klara fragt ihn mit der Geduld der Überwindung, warum er das nicht will.

„Aber das hat er doch so lange nicht mehr mit uns gemacht. Warum heute?“ Sie durchschaut seine Ausflüchte und ärgert sich gleichzeitig über seinen weinerlichen Ton.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du klar und deutlich etwas fordern oder ablehnen kannst!“ Er sieht sie fragend an und lamentiert weiter. ‚Es ist ihm nicht auszutreiben. Hört er meinen weinerlichen Singsang, wenn mir etwas nicht in den Kram passt und macht es einfach nach?’

„Weil er heute da ist. Auch wenn wir beide nicht damit gerechnet haben…“

„Du hast auch nicht gewusst, dass er heute Morgen noch da sein wird?“ Er wirft ihr einen über­raschten Blick zu.

„Was für ein kluger Kopf du bist. Nein, ich hab auch nicht damit gerechnet, dass er jetzt noch hier sein wird.“ Sie flüstern, als würden sie beide nicht wollen, dass Martin ihr Gespräch mit­hört.

„Sei nicht so stur, Simon. Wir gehen jetzt in die Küche, und ich mach Frühstück für uns drei!“ sagt sie entschieden, während sie sich den Morgenrock zubindet.

Ihr Strahlen ist wieder zurückgekehrt. Klara gibt Martin einen Guten Morgen-Kuss und strei­chelt ihn über den geschorenen Kopf. Auf dem Weg zum Kühlschrank wirft sie Simon einen kurzen Blick zu. Martin und Simon haben ein­an­der nicht begrüßt. Nachdem sie einen Topf mit Milch auf die brennende Flamme des Gasherdes gestellt hat, füllt sie Wasser in die Kaffee­maschine.

„Du trinkst doch Kaffee?“ fragt sie, halb zu Martin umgedreht. Er nickt. Die Stimmung ist befangen. Simon hat die vorangegangene Zärtlichkeit mit Herzklopfen beobach­tet. Er sitzt mit dem Rücken zu Martin am unteren Ende der Eckbank, spielt verlegen mit den Fingern und sieht aus dem Fenster.

„Schnee!“ ruft er. „Hast du schon gesehen, dass es geschneit hat heute Nacht?“ ‚Er spricht nur mit mir.’ Sie sieht fragend zu Martin. Er versteht ihren Blick und meint:

„Ja, ich hab schon gesehen, dass es geschneit hat.“ Er sieht seinen Sohn an, der verlegen den Blick senkt. „Das heißt, dass ich heute nicht ins Büro fahren kann.“ Seine Worte sind betont nebensächlich. Überrascht die Augenbrauen hochgezogen wendet sie sich um, und fragt, was das zu bedeuten hat.

„Mit Sommerreifen ist es viel zu gefährlich.“ Noch immer tut er, als müsse er sich in sein Schicksal fügen.

Die Milch braust auf, Klara schiebt den Topf zur Seite wie das Gesagte. Sie holt drei Tassen aus der Vitrine und rührt in einem davon Kakaopulver mit etwas Honig und heißer Milch an. Für Simon ist Instant-Kakao zu süß. Als sie Brot in Scheiben schneidet, rennt ihr Kind aus dem Zimmer.

„Wo willst du denn hin?“ ruft sie ihm nach.

„Zähneputzen!“ hört sie noch. Sie wirft Martin einen verunsicherten Blick zu.

„Wir müssen auch noch Zähneputzen. Es heißt, es ist nicht gesund, zu frühstücken, ohne vorher die Zähne geputzt zu haben.“

Martin ist das egal. Er frühstückt oft ehe er im Bad war. Er erinnert sich an die Wochenen­den, als die beiden regelmäßig bei ihm waren. ‚Vor unendlich langer Zeit.’ Er seufzt bei dem Gedanken daran.

„Und warum?“ Seine Frage holt ihn wieder in die Gegenwart zurück. Klara fürchtet, beleh­rend zu wirken. ‚Wie kann ich ihm etwas erklären, ohne dass er mich gleich wieder als schulmeis­ternd bezeichnet?’

„Weil sich über Nacht ein Bakterienbelag auf Zähnen und Zahnfleisch bildet, der nicht mit dem Essen in Magen und Darm gelangen soll.“ Es klingt wie ein Sach­unterricht. Sie seufzt und tut unbeteiligt, während sie den Geschirrspüler ausräumt.

„Aha!“ erwidert Martin nur und zündet sich eine Zigarette an.

„Könntest du das bitte lassen. Ich versuche in Simons Gegenwart nicht zu rauchen.“ Er erinnert sich daran, wie sie einmal in seiner Gegenwart geraucht hat und denkt, es kommt wahr­scheinlich öfter vor. Er schweigt zurückhaltend. Für einen Moment hat er den Ein­druck, nun ginge das alte Spiel wieder von vorne los. Doch dann besinnt er sich anders.

„Keine schlechte Idee. Es soll ja nicht gesund sein, auf nüchternen Magen zu rauchen.“ Er schiebt mit unschuldigem Blick die Zigarette in die Packung zurück. Als Simon zurück­kommt, steht Martin auf, lässt seinen Sohn nicht aus den Augen und meint:

„Dann werd ich jetzt wohl auch erst einmal meine Zähne putzen gehen. So wie du mir das vorgemacht hast, Simon.“ Sein Sohn sieht ihm ungläubig hinterher und geht an seinen Platz.

„Putzt du dir denn nicht die Zähne vor dem Frühstück?“ Martin scheint verlegen. ‚Oder er tut nur so’, denkt Klara, die die beiden beobachtet. An der Tür dreht er sich noch einmal um und erwidert:

„Nein, nicht immer. Aber ich hab mir schon gedacht, dass das gescheit ist.“ Er hebt dabei wis­send den linken Zeigefinger und lächelt verschmitzt.

Klara ruft ihm nach, dass er eine neue Zahnbürste im Holzkästchen links vom Spie­gel findet. Als letzte geht auch sie ins Bad. Vater und Sohn sprechen unterdessen kein Wort. Martin fürchtet Simons beharrliches Schwei­gen. Simon sitzt verbissen am Ende der Bank und spielt mit einem Cowboy auf einem Pferd, den er sich nach dem Bad aus seinem Zimmer geholt hat. Walter hat ihm das Spielzeug geschenkt. Er selbst hat als Kind damit gespielt.

Alle drei wagen beim Frühstück nicht, jenes Thema anzusprechen, das im Raum schwebt wie der Duft nach Kaffee. Dann fällt Klara ein, sie könnte ihren Sohn fragen, welche Unterrichtsgegenstände er heute hat. Schweigen. Simon tut, als hätte er sie nicht gehört.

„Du hast mich doch gestern gefragt, wie du dir die Neunerreihe leichter merken kannst. Hast du Rechnen heute?“ fragt sie. Simon nickt. Klara erklärte ihm am Abend, ehe Martin gekom­men ist, er müsse immer von den Zahlen an der zweiten Stelle eins wegrechnen und vorne eins dazuzählen. Also null und neun, dann kommt eins und acht, dann zwei und sieben, drei und sechs und so weiter. „Das ist ja ganz einfach“, stellte er erleichtert fest. Klara sagte ihm, dass er für sein Alter ein sehr gutes Vorstellungs­vermögen für die Zahlenreihe habe.

„Musst du deine Turnsachen heute mitnehmen?“ Wieder nickt er.

„Und Religion haben wir auch, aber das gefällt mir nicht so.“ ‚Endlich! Er hat etwas gesagt.’

„Warum nicht?“ will Martin wissen. Kauend überlegt Simon, ob er antworten soll, seinen Vater unsicher betrachtend. Als dieser ihm einen fragenden Blick zuwirft, kann er die Worte nicht mehr zurückhalten.

„Weil es so langweilig und so anstrengend ist. Dauernd erzählt uns der alte Pfarrer von seinem strengen Gott, der uns bestrafen wird, weil wir alle Sünder sind. Einmal hab ich zu ihm gesagt, er soll mit uns nicht über Sünden reden, weil wir noch unschuldig sind.“ Er sieht seine Mutter an. „Das hat mir die Klara gesagt. Aber der Pfar­rer hat mich streng angesehen und gemeint, ich soll in mich gehen und heraus­finden, welche Fehler ich hab. Ich habe sicher eine ganze Menge Sünden.“ Er senkt trau­rig den Kopf. „Das hat mich gekränkt.“ Er verstummt verlegen.

‚Wie viel Glauben an sich selbst dieser Glaube doch nimmt.’ Klara seufzt.

„Das war sehr mutig von dir. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Der zweite Gedan­ke tut ihm augenblicklich Leid. „Ich hab das nicht so gemeint. Du wirkst so brav auf mich und daher wundere ich mich, wenn du so keck sein kannst.“ Es gibt kein Zurück mehr. Sein Sohn hat sich wieder verschlossen.

„Simon, ich hab dich nicht beleidigen wollen.“ Keine Antwort. Klara greift ein.

„Er steht immer alleine da mit seinen klugen Fragen und Ansichten, weil sich nie­mand ihm anschließen will. Ich hoffe, das führt bei ihm nicht auch dazu, dass er schließ­lich nicht mehr fragen will.“ So wie ich, ergänzt sie in Gedanken. Ihr wurde als Kind das Fragen Stellen und eine ei­ge­ne Meinung mit aller Gründlichkeit ausgetrieben. Es hat sie sehr viel Mühe gekostet, wieder zu lernen, auszudrücken, was ihr am Herzen liegt und zu widersprechen. Erst durch den Rückhalt von Walter hat sie ihre Angst überwunden, vernichtet zu wer­den, wenn sie ihren eigenen Standpunkt vertritt und in der Öffentlichkeit unan­genehme Fragen stellt.

Ihre Worte klingen trotz der Erinnerungen an die eigene Kindheit stolz. Sie streichelt Simons Rücken, um ihn zu ermutigen, auch weiterhin zu sagen und zu fragen, was er denkt.

„Warum geht er überhaupt in den Religionsunterricht. Du kannst ihn doch raus­nehmen?“ Fragend sieht Martin sie an. Dann wendet er sich seinem zweiten Stück Brot zu, das er mit Butter bestreicht.

„Ich hab dem Simon schon gesagt, dass er nicht gehen muss, wenn er nicht will. Früher haben sie eine ganz nette Religionslehrerin gehabt. Die ist dann leider weggegangen, weil sie ein Kind bekommen hat.“

In Simons Gegenwart erzählt sie ihm nicht, dass der Pfarrer sie eines Tages ange­rufen hat, um mit ihr über ihren Sohn zu sprechen. Es war keine Einladung. Er hat sie zu sich zitiert. Seine Ausführungen hörten sich an, als sei Simon Mitglied einer Sekte oder einer verbrecherischen Organisation. Er fragte sie, warum er überhaupt am Religions­unterricht teilnimmt. „Offenbar ist er ein Heidenkind!“ warf er ihr an den Kopf. Sie bot ihm die Stirn und köpfelte den Vorwurf ungese­hen zurück. Martin hatte darauf bestanden, ihn taufen zu lassen.

„Sagen Sie ihm, er soll nicht immer so frech sein. Das gehört sich nicht!“ ‚Was soll ich ihm darauf antworten? Ich bin es doch, die ihn dazu ermutigt. Oder stachle ich meinen Sohn gegen den Pfarrer auf, weil ich als Kind nicht die Möglichkeit gehabt hab, mich aufzulehnen?’ Sie muss diesem Verdacht beizeiten auf den Grund gehen. Vorerst bleibt sie bei einer einleuchtenden Frage.

„Warum sagen Sie ihm das nicht selbst?“ Sein verdatterter Blick verrät, dass ihm nur selten widersprochen wird.

„Wissen Sie, was er unlängst gesagt hat, als ich erklärte, dass es das Himmelreich nur für uns Menschen gibt?“ Wieder hat sie das Gefühl, vor einem Richter zu stehen, der ihr ausein­an­dersetzt, dass sie einen Verbrecher großzieht. Sie schüttelt wortlos den Kopf.

„Wenn die Tiere da nicht hin dürfen, dann will er da auch nicht hin. Das kann kein schöner Ort sein, wenn es dort keine Tiere gibt.“ Er sieht Klara entrüstet an und wirft erbost eine Zeit­schrift, die er aus Verlegenheit in der Hand hält, auf den Schreib­tisch.

‚Meint er tatsächlich, ich würde zustimmen und wie er der Ansicht sein, dass ein Kind so etwas nicht sagen darf?’ Diplomatie ist nicht ihre Begabung. Sie bevorzugt es, die Wahrheit zu sagen. Und die Wahrheit ist, sie liebt ihren Sohn dafür, dass er die Offenheit ebenso wenig scheut wie sie selbst. Und sie liebt ihr Kind dafür, dass er mit der Tierwelt verbunden ist, wie die Menschheit zu jener Zeit, als die Natur noch göttlich war.

„Es wäre mir lieber, Sie nähmen ihn aus dem Religionsunterricht.“ ‚Das ist ein deutlicher Fingerzeig.’ Sie antwortete, dass sie das laufende Schuljahr noch abwarten wolle, da Simon im nächsten Frühjahr zur Erst­kom­­mu­nion ginge. ‚Da würde er sich ausgeschlossen fühlen aus der Klassengemeinschaft’, denkt sie und übt sich in Diplomatie. Sie lächelt, als sie ihm die Hand zum Abschied reicht und hofft, die junge Religionslehrerin kommt nach der Karenz wieder zurück und bringt Simon ein Ver­stän­d­nis für die christliche Lehre bei, die ihm gefällt.

„Glaubst du an Gott?“ Martin bemerkt vorerst nicht, dass die Frage ihm gegolten hat. Er ist überrascht. Nach seiner Kränkung befürchtete er, von Simon weiterhin ignoriert zu werden.

„Ach mich meinst du?“ fragt er mit vollem Mund.

„Mit vollem Mund spricht man nicht!“ Er hört Klara aus ihm sprechen.

„Da hast du vollkommen Recht. Das ist kein schöner Anblick“, meint er einlenkend, nachdem er geschluckt hat. Er sieht verlegen Klara an.

„Natürlich freut dich das, wenn der Simon mich maßregelt“, stellt er beiläufig fest. Sie lächelt wissend. Das Telefon läutet. Noch während sie sich den Mund mit einer Serviette abwischt und ihren Stuhl rückt, ist Simon bereits dabei, abzuheben.

„Weber“, meldet er sich mit seiner knabenhaft bestimmten Stimme, die etwas Erwachsenes an sich hat.

„Ja, ich bin in dreißig Minuten da.“ Dann legt er auf. „Es war für mich. Der Kurt will wissen, ob ich krank bin, oder eh in die Schule komm. Ich hab ihm gestern gesagt, dass ich glaub, dass ich krank werd.“ Er geht aufrecht zurück an seinem Platz und trinkt seinen Kakao aus. „Ich geh mich jetzt anziehen.“ Die Frage an Martin ist ver­gessen.