Klara ist durch die Musik des Säbeltanzes sehr beschwingt. Er stürmt wie ein tosendes Gewitter in die Küche.
„Simon, was ist denn los mit dir?“ Die Schultasche wird hart in eine Ecke geworfen. Seine Fäuste sind geballt. Er lässt sich schwer auf die Eckbank fallen und verschränkt trotzig die Arme. Ohne etwas zu sagen. Klara gibt fein geschnittene Zwiebeln in heißes Olivenöl. Martin erscheint in der Tür. Er war es leid, hinter Simon her zu rennen. In den zweiten Bus ist er erst gar nicht eingestiegen.
„Dein Sohn findet eh alleine nach Hause. Den brauchst du nicht mehr abholen.“ Es klingt gekränkt und unwirsch zugleich. Martin geht durch die Küche in Klaras Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Wie gebannt steht sie da. Die Zwiebel riechen angebrannt. Sie rührt schnell um.
„Willst du nicht deine Jacke ausziehen und dann den Tisch decken?“ Simon hat noch immer kein Wort gesagt.
„Nein, ich will, dass der endlich wieder geht!“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf Klaras Zimmertür. Das Telefon läutet. Simon springt auf und nimmt ab. „Ja, sie ist hier. Ciao Rickie.“ Mit betretenem Blick übergibt er den Hörer an Klara.
„Ja, was gibt’s Rickie?” Sie lässt sich erschöpft auf das Sofa fallen.
„Na, wie geht’s der trauten Familie?“ Klara seufzt ärgerlich. „Der Simon hört sich genervt an. Und wie geht es dir?“ Klara schweigt eine Weile. Sie atmet tief durch, ehe sie antwortet.
„N o c h sind wir nicht abgebrannt und n o c h gibt es keine Verletzten. Aber wenn du etwas Geduld hast, werden sich deine Weissagungen erfüllen.“ Sie ist angriffslustig. Rickie lächelt zufrieden vor sich hin. Zur Bestätigung ballt sie die Faust, hält den Daumen hoch und presst die Lippen aneinander.
„Und was soll ich dir geweissagt haben?“ Sie tut wie immer unschuldig. Klara spielt nervös mit dem Kabel des Telefons.
„Wart einen Moment, ich muss die Pfanne vom Feuer nehmen.“ Sie legt den Hörer auf das Sofa und läuft zum Herd. Das Wasser für den Reis schaltet sie ebenfalls aus. ‚So wie es derzeit aussieht, werden wir alle drei keinen Appetit haben’, denkt sie ergeben.
„Da bin ich wieder.“ Sie lässt sich auf das Sofa fallen.
„Also jetzt ehrlich, wie geht’s euch.“ Klara seufzt.
„Das kommt darauf an, wen du fragst. Mir geht es mit Simon momentan nicht sehr gut, weil er sich vollkommen daneben benimmt.“ Sie wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Er weiß, worum es geht. In der vergangenen Nacht kam er zweimal und ließ sich schließlich nicht mehr abwimmeln. Martin drehte sich einfach zur Wand und schlief bald wieder ein. Simon schmiegte sich an sie. Sie lag als einzige stundenlang wach und überlegte innerlich getrieben, was sie tun kann, um dieser Zwickmühle zu entkommen.
„Aber mit dem Martin geht es mir gut. Wir sind zwar noch mitten in den Verhandlungen, aber es sieht gut aus. Da kann ich dir leider nicht helfen.“ ‚Der Nachsatz war überflüssig’, räsoniert Klara und rechtfertigt sich: ‚Aber warum muss Rickie so unverhohlen auf eine endgültige Trennung zwischen uns spekulieren?’ Simon läuft plötzlich aus der Küche.
„Na dann musst du halt schauen, wie du deine beiden Männer unter einen Hut bringst.“ Ohne sich zu verabschieden, legt sie auf. Klara hört eine Zeitlang das Besetztzeichen und lässt den Hörer in die Gabel fallen. Martin steht plötzlich in der Tür.
„Ich hab mir überlegt, zu fahren.“ Er sieht sie erwartungsvoll an. Ihre Blicke unterhalten sich ohne Worte. Sie lässt sich in das Sofa fallen.
„Bist du dir da auch sicher?“
„Nein, ich hab mir überlegt, dass ich mir erst einmal neue Laufsachen kaufen geh. Ich brauch neue Laufschuhe.“ Seine rasche Antwort erweckt den Eindruck, als handle es sich nicht um eine spontane Entscheidung.
„Das ist eine sehr gute Idee.“ Klara atmet erleichtert durch. „Ich will nicht, dass du jetzt das Feld räumst, nur weil sich unser Herr Sohn einbildet, mir vorschreiben zu können, was ich zu tun und zu fühlen hab.“ Sie geht auf ihn zu und umarmt ihn.
„In der nächsten Quergasse gibt es ein gutes Geschäft für Laufschuhe.“ Martin sieht sie fragend an. „Du gehst einfach die Straße runter und bei der ersten Gelegenheit nach rechts. Es liegt auf der linken Seite, aber ich weiß nicht genau, wo. Wenn du es nicht findest, frag …“
Martin ist bereits an der Tür zum Vorraum und meint ungeduldig: „Ich werde es schon finden. Bis später.“ Er dreht sich halb zu ihr um, verabschiedet sich beiläufig und ist dann hinter der Küchentür verschwunden. Wieder läutet das Telefon. Klara will nicht abnehmen, überlegt es sich jedoch anders.
„Ich bin es noch einmal. Die Hanna hat mir eine Moralpredigt gehalten und mir aufgetragen, ich soll dich noch einmal anrufen.“ Sie schweigt verlegen.
„Ich ruf dich dann zurück. Bist du in der Beratungsstelle? Ist gut, ich ruf dich in einer Viertel Stunde oder so an. Bis dann.“ Sie läuft rasch hinaus.
„Bis wann bist du wieder zurück?“ Er steht unentschlossen in der geöffneten Hälfte der Doppelflügeltür. „Ich frag nur wegen dem Essen“, sagt sie schnell, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wolle ihn kontrollieren.
„Ihr braucht nicht auf mich warten. Es wird länger dauern. Ich will dann gleich laufen gehen.“ Klara verschränkt die Arme und lehnt sich an den Türstock der Küchentür. Noch immer unentschlossen sieht er sie an.
„Was willst du von mir? Dass ich ein Wunder vollbring?“ ‚Es ist nicht meine Schuld, dass du dein Vaterdasein vernachlässigt hast. Simon präsentiert dir jetzt die Rechnung dafür.’ Sie spricht ihre Gedanken nicht aus. Vorwürfe sind nie hilfreich. Außerdem hat sie sich selbst etwas vorzuwerfen. Ihr ist nicht wohl bei dem Gedanken daran, es ihrem Sohn zu beichten.
Er reagiert nicht auf das Gesagte. Und Gedachte. „Wo hast du gesagt, ist ein gut erreichbares Tor vom Park?“ Klara ist froh, ihm etwas Praktisches erklären zu können. Etwas, das sie kennt und wo es nicht um Fingerspitzengefühl und Ahnungen geht.
„Du fährst am besten die Straße an der Wien raus, nach der verglasten Brücke über den Fluss biegst du links ein und fährst dann rechts einfach gerade aus, und dann noch einmal nach links. Da kommst du direkt zu einem Tor. War das verständlich?“ Er wiederholt: „Über die gläserne Brücke links und dann rechts und dann wieder links.“ Klara findet sich nicht so leicht mit Straßenbeschreibungen zurecht.
„Bis dann, Martin. Wir warten mit dem Essen auf dich.“ Sie geht auf ihn zu und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Ihr Gespräch am Vormittag kommt ihr in den Sinn. Es fühlt sich an, als hätte es bereits vor Tagen stattgefunden.
„Ich schau dann, was ich bei Simon erreich, während du weg bist.“ Es soll ein Trost sein. Bitterkeit macht sich breit. Er löst sich rasch von ihr und geht hinaus. Sie schließt die Tür und entdeckt Simon hinter sich.
„Was willst du bei mir erreichen?“ Klara schlägt in Gedanken die Hände über dem Kopf zusammen. Sie kommt sich vor wie in einer dieser viel belachten Familienserien aus den Staaten. Das Publikum fehlt, das solche Situationen zum Lachen komisch findet. Ernsthaftigkeit und Tiefe sind Gefühlsregungen, die in diesen Serien mit unangebrachten Lachsalven übermalt werden. Mit einem ernsten Blick fordert sie ihn auf, ihr in die Küche zu folgen.
„Komm her, Simon, wir zwei trinken jetzt zusammen diesen wunderbaren Kakao, den Hanna uns unlängst mitgebracht hat und essen dazu ein Honigbrot.“ Sie legt ihren Arm um seine Schulter.
„Mama, warum ist der Martin noch immer da?“ Sie sieht ihn fragend über die geöffnete Kühlschranktür an. ‚Warum soll ich etwas erklären, das von Anfang an klar ausgesprochen worden ist?’ Sie stellt mit einem nachdenklichen Gesicht die Milchflasche auf die Arbeitsfläche.
„Simon, wir haben dir doch gestern gesagt, dass der Martin bis Sonntagabend hier bleiben wird. Jetzt ist Freitagnachmittag, was soviel heißt, als dass noch gut zwei Tage übrig sind von der Zeit, die er noch bei uns sein wird.“ ‚So sehr ich mich darüber freu, so sehr hofft Simon, dass diese Tage so schnell wie möglich vorüber gehen.’ Sie streichelt ihm mitfühlend über den Schopf.
„Aber du bist ja gar nicht wirklich krank. Warum muss er dann noch hier bleiben?“ Simon wagt nicht, sie anzusehen. Klara drückt ihn an sich und küsst ihn auf die Wange.
„Wie soll ich dir das erklären, Simon? Du bist böse auf den Martin, weil du … ach ich weiß auch nicht warum. Ich will wieder mit ihm zusammen sein, verstehst du?“ Simon macht sich los und sieht trotzig zu ihr hoch.
„Aber warum denn? Er hat dir letzten Winter so wehgetan. Und nach seinem Besuch im Sommer hast du nur noch geweint.“ Sie seufzt. Nicht in Anbetracht der schmerzhaften Erinnerung. Sie weiß nicht, wie sie ihrem Sohn ihren Sinneswandel begreiflich machen kann.
„Das kann ich dir nicht erklären, Simon. Es ist so. Der Martin und ich haben uns halt sehr gern.“
„Wenn du es nicht erklären kannst, was soll dann gut daran sein? Du kannst mir doch sonst immer alles erklären. Warum das nicht?“ Er lässt sich robbend auf der Bank nieder. ‚Mein Argument, dass wir uns gern haben, lässt er nicht gelten.’ Klara denkt eine Weile darüber nach. Sie reibt sich die Hände und sucht nach einfachen Worten. Es geht nicht nur darum, es mit einfachen Worten zu erklären. Wieder läutet das Telefon. „Geh du ran, Simon und sag, wenn es Rickie ist, dass ich sie in zwanzig Minuten zurückrufe.“
Sein Blick ist verwirrt. Er sieht Klara fragend an. Ohne ein Wort zu sagen, übergibt ihr Simon den Hörer. „Weber.“ Die Ordinationshilfe ihres Hausarztes ruft sie wegen des Termins an.
„Frau Weber, wenn sie wollen, dass wir sie krankschreiben, müssen Sie schon vorbeikommen. Sie haben den Termin heute Vormittag nicht wahrgenommen!“ ‚Frau Bernhard ist wie eine Schuldirektorin. Klara, das ungezogene Kind, hat den Termin um elf vergessen.’ Sie amüsiert sich.
„Frau Bernhard, wie lange haben Sie heute noch die Ordination offen?“ Das weiß sie. Aus taktischen Gründen hält sie es für klüger so zu tun, als wisse sie es nicht.
„Also gut, ich komme um drei. Haben Sie vielen Dank, dass Sie mich extra angerufen haben. Auf Wiedersehen.“ Klaras unterwürfige Worte sind gespielt.
„Simon, ich muss am Nachmittag zum Arzt. Kommst du mit?“ Sie wirft ihm einen aufmunternden Blick zu.
„Warum fragst du? Ich geh doch immer mit dir mit, wenn du zum Arzt gehst.“
‚Martin hat keine Wohnungsschlüssel mitgenommen. Das heißt, er hat sie noch nicht wieder zurückbekommen. Er wird gegen halb drei noch nicht zurück sein, wenn wir aufbrechen.’ Sie überlegt, den Schlüssel unter die Fußmatte zu legen.
„Simon, ich muss dir ein Geständnis machen.“ Er folgt bereitwillig ihrer Aufforderung, sich auf ihren Schoß zu setzen. Das ist lange nicht mehr vorgekommen. ‚Er kann nicht sein Leben lang mein Schmusekind bleiben.’ Seinen Kopf an ihrem Hals, ist sie sich nicht mehr sicher. Auch die Art, wie er sich vergangene Nacht an sie geschmiegt hat, lässt sie darüber nachsinnieren: ‚Hab ich zu früh begonnen, ihn abzunabeln?’ Wie viele Mütter denkt sie nicht daran, dass Kinder sich von selbst abnabeln und eines Tages ihre eigenen Wege gehen.
„Was musst du mir gestehen, Mama?“ Klara hat sich ihre Worte noch nicht überlegt. Sie weiß nicht, wo und wie sie beginnen soll. Nach einem tiefen Seufzer formuliert sie ihre Gedanken. Ohne zu wissen, wo diese sie hinführen werden. Sie seufzt noch einmal. Nicht zuletzt durch Simons Nähe. Noch immer fühlt sie sich wie eine Glucke, die über jeden Schritt ihres Kükens wacht, damit ihm nichts passiert.
„Es ist nicht nur Martins Fehler, dass du ihn vermisst hast.“ Bereits nach dem ersten Satz weiß sie nicht weiter.
„Wer hat noch einen Fehler gemacht?“ Simon sieht zu ihr hoch. Sein Blick verrät ihr, dass er ihr nicht glauben will. Es ist einfacher, nur einen Menschen für schuldig zu erklären. Besonders wenn es jemand ist, den er momentan nicht gut leiden kann.
„Simon, du tust Martin Unrecht, wenn du glaubst, es liegt nur an ihm, dass alles so gekommen ist. Ich hab auch Fehler gemacht.“ Sie hält inne.
„Welche Fehler hast du gemacht?“ Simon ist wieder in seiner Trösterrolle und streicht mit seiner kindlich behutsamen Hand über ihre Wange. Klara ist gerührt. Die Sonne verschwindet hinter dem Nachbarhaus. Die Tage nähern sich der Wintersonnwende. Es wird dunkel im Zimmer. Klara ist es Recht so. Das dämmrige Licht passt zu dem, was sie Simon jetzt sagen will. Ihre Beziehung zu Martin ist wie ein Tag, über den sie am Abend nachdenkt.
„Du hast Martin zuletzt nur von seiner schlechten Seite kennen gelernt.“ ‚Warum bin ich in der Defensive und kann nicht über mich sprechen?’ „Nein, Simon, hör mir zu. Ich will dir etwas ganz anderes sagen.“ Simon wird müde von den Haken, die sie während ihres Gesprächs schlägt. Es erschöpft ihn, ihr dauernd irgendwohin zu folgen, wo sie dann doch wieder kehrt macht.
„Wenn ich so rede wie du, sagst du immer zu mir, ich soll aufhören wie die Katze um den heißen Brei zu reden.“ Eine aufgeschlossene Kinderstube schreibt Aufrichtigkeit vor.
„Du hast Recht, Simon. Ich werd mich jetzt zusammenreißen und dir reinen Tisch machen. Wir haben nicht lange Zeit. In einer halben Stunde müssen wir aufbrechen.“ Sie will sich eine Tasse Kaffee machen. Dann fällt ihr ein, dass sie versprochen hat, mit Simon eine Tasse Kakao zu trinken.
„Ich mach uns jetzt einen Kakao und dann reden wir weiter, einverstanden?“ Simon nickt und klettert von ihrem Schoß.
„Ich mag lieber ein Brot mit Marmelade von der Oma.“ Die passiert Himbeermarmelade ihrer Mutter schmeckt vorzüglich. Ihr kommt nie in den Sinn, Marmelade zu kaufen. Ihre Mutter hat immer genügend Vorrat. Manchmal gibt sie ihrer Tochter eingefrorene Beeren mit, damit sie sich selbst Marmelade einkochen kann. ‚Als nächstes kauf ich mir eine „Flotte Lotte“. Passierte Marmelade schmeckt mir besser.’
„Simon, ich hab oft zu dir gesagt, du bist mein edler Ritter. Kannst du dich daran erinnern?“ Simon nickt. Den Mund voll mit Marmeladebrot und bis über die Lippen rot verschmiert. „Und du hast mich auch deinen kleinen Prinzen genannt.“ Er ist sichtlich stolz darauf.
„Das war falsch von mir. Du bist mein Kind und nicht mein kleiner Ritter.“ Simon verschluckt sich am Kakao. Er muss husten. Sie klopft ihm auf den Rücken.
„Warum darf ich nicht dein Ritter sein?“ Er fragt, obwohl er seine Rolle nicht begreifen kann. Doch er mag es, wenn sie ihn ihren Ritter nennt.
„Simon, du weißt, eine Familie besteht normalerweise aus Vater, Mutter und Kind oder Kindern…“
„Warum der Vater zuerst?“ unterbricht er sie.
„Das ist eine berechtigte Frage. Na gut, wenn du willst nennen wir es Kind, Mutter und Vater. Bei uns hat der Vater die meiste Zeit gefehlt.“ ‚Abgesehen von der Zeit, in der wir getrennt waren und der Tatsache, dass wir eine Pendlerehe führen, hat Martin gar nicht so oft gefehlt.’ Sie denkt wortlos darüber nach.
„Bei den meisten Kindern in der Schule ist der Vater auch fast nie da. Das ist ganz normal.“
„Du hast eine gute Beobachtungsgabe. Oder reden die Kinder darüber, dass sie ihre Väter vermissen?“ Simon hebt wortlos die Schultern. ‚Es könnte auch sein, dass er mir bei den Diskussionen mit Kamilla und Rickie zugehört hat. Vielleicht aber will er mir nur imponieren.’ Simon denkt, seine kluge Erkenntnis hätte Klara zum Schweigen gebracht.
„Das ist schon richtig, dass die Kinder meistens nur Sache der Frauen sind. Aber …“ Sie weiß nicht weiter.
„Aber was?“
„Aber es gibt immer auch noch andere Gründe.“ Ihre Worte entsprechen nicht mehr ihrem politischen Verständnis. ‚Wie soll ich Simon erklären, dass die Abwesenheit von Martin mit unserer Beziehung zutun hat, wo doch die meisten Männer nur sehr wenig Zeit für ihre Kinder haben, und das meist ganz andere Ursachen hat, als in unserem Fall. Oder irre ich mich?’ Sie wird unsicher. ‚Vielleicht arbeiten viele Männer auch deshalb soviel oder machen sich mit einer aufwändigen Lieblingsbeschäftigung aus dem Staub, weil sie genau wie Martin nur einen Abstand zu ihrer Frau und zu ihren Kindern haben wollen.’ Der individuelle und der allgemeine Fall lassen sich niemals zusammen führen. Der Einzelfall ist immer anders.
„Lassen wir doch erst einmal die anderen Kinder weg, die auch ihren Vater vermissen so wie du.“ Simon hört ihr gespannt zu und will gerade anfügen, dass er Martin momentan nicht vermisst. Es wäre ihm lieber, er würde wieder nach Hause fahren. Etwas hält ihn zurück. Er ahnt, es würde Klara kränken. Sie ringt unterdessen noch immer nach Worten. Nach einer Weile sieht sie auf die Uhr. „Du, wir müssen uns jetzt fertig machen. Ich erzähl dir das auf dem Weg zur U-Bahn.“
Simon an der Hand eilt sie zur nächstgelegenen Station. „Simon, du bist mein Kind. Der Martin ist mein Mann und dein Vater…“
„Was redest du denn da zusammen, Mama. Das weiß ich doch!“
Sie haben genügend Zeit. Trotzdem hetzt etwas in ihrem Innern einem Ende entgegen. Sie will so rasch wie möglich an einem Punkt kommen, an dem das Thema für Simon klar werden kann. Die Fehler, die sie in ihrer Beziehung zu ihrem Sohn begangen hat, leuchten ihr wie rote Blinklichter entgegen.
„Wenn du dich dagegen stellst, dass der Martin und ich wieder zusammen sind, werden wir es nicht schaffen … Ich meine, eine Familie zu sein.“ Er sieht enttäuscht zu ihr hoch. „Mach dir keine Sorgen, es liegt deshalb keine Last auf deinen Schultern. Ich will nur, dass du dich mit Martin wieder verträgst. Du hast ihn doch früher auch gern mögen.“ Sie bemerkt sein schmollendes Gesicht. „Aber dass du jetzt etwas gegen ihn hast, ist auch mein Fehler, weil ich dich ihm lange Zeit vorgezogen hab. Das war nicht richtig, verstehst du?“ Sie hat den Mut, es auszusprechen. „Ich kann sehr gut verstehen, dass du Martin derzeit ablehnst. Er ist dabei, dir einen Status wegzunehmen, den du lange Zeit innegehabt hast.“ Simon sieht sie fragend an.
„Mama, was ist ein Status?“ ‚Das muss ihn ja irritieren, wenn ich ihn behandle wie einen Erwachsenen und er dann doch wieder dasteht wie ein Kind.’ Sie ist verwirrt und innerlich aufgewühlt.
„Tut mir Leid, Simon. Ich bin nicht ganz bei der Sache. Martin ist nicht rechtzeitig zurückgekommen, ich hab den Termin bei meinem Arzt vergessen und nun liegt der Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte und ich mach mir Sorgen, dass jemand in die Wohnung kommt und uns bestiehlt.“
Er drückt ihre Hand. „Es wird schon nichts passieren.“ ‚Simon ist mit seinen acht Jahren erwachsener als viele erwachsene Männer. Martin mit eingeschlossen. Er hat selten tröstend meine Hand gedrückt, wenn ich mir Sorgen gemacht habe.’
In der U-Bahn setzt er sich dicht neben sie und schmiegt sich an sie. ‚Wie kann ich ihm jetzt sagen, dass er einen Teil meiner Zuwendung wieder an seinen Vater abgeben wird müssen und Martin seinen Platz an meiner Seite zurück haben will?’ Sie seufzt und verschiebt in Gedanken das Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt. Simon ist froh, als sie nichts mehr sagt. Die Aussicht auf die Veränderung, die Martin herbeiführt, bereitet ihm großes Unbehagen.